Geliebte Myriam, geliebte Lydia
sich zum Beispiel um den Bruder oder Vater handelt, - die Familie tötet das Mädchen. (Erneuter vielstimmiger Aufschrei von hinten.)
Jawohl: die Familie tötet das Mädchen. Glauben Sie mir: so etwas kommt häufiger vor, als Sie denken. Auch eine ältere Frau hat, falls es ihr nicht gelingt, einen Ehemann zu finden, keinerlei Möglichkeit zu sexuellen Beziehungen. Zumeist nimmt ihr allerdings ihr Vater rechtzeitig diese Sorge ab, indem er für sie einen Bräutigam sucht. Das ist dann aber auch wirklich ausschließlich seine Entscheidung - die Braut hat in aller Regel bei der Wahl des Bräutigams überhaupt nichts zu reden, abgesehen davon, daß sie in den meisten Fällen dafür ohnedies viel zu jung ist; verlobt wird sie nämlich oftmals schon im Kindesalter oder gar schon vor der Geburt, und mit 12, 13 oder 14 Jahren findet dann die Hochzeit statt, obwohl das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter 16 Jahre beträgt. Wird aber, aus welchen Gründen auch immer, kein Ehemann gefunden, so muß die unverheiratet gebliebene Frau, genau wie die Geschiedene und die Witwe, absolut keusch leben und wird mit der Zeit zu einer sogenannten alten Jungfer. Gelegentlich setzt vielleicht eine solche Frau um einer Liebesbeziehung willen ihren Ruf aufs Spiel, muß aber dann von seiten der Gesellschaft, in deren Augen sie um nichts besser als eine Hure ist, Verachtung und Verfolgung in Kauf nehmen. Und was ist, wenn eine verheiratete Frau Ehebruch begeht?
Nun, der Koran bestimmt, daß eine Ehebrecherin zu Tode gesteinigt werden muß. Diese Vorschrift wurde zwar in Ägypten seit 1952 durch eine mildere Strafe ersetzt, ist aber so tief im Bewußtsein des Volkes verankert, daß immer noch Jahr für Jahr bestimmt Hunderte von Frauen in unserem Land von ihren Ehemännern und deren Familien auf diese Weise hingerichtet werden. Das Verbrechen dieser Frauen war vielleicht wirklich Ehebruch, vielleicht aber auch nur kokettes Verhalten anderen Männern gegenüber oder gar nur ein unglücklicher Zufall; hierbei gilt oft schon der bloße Verdacht als Schuld.
Und ein weiterer beliebter Grund für die Steinigung einer Ehefrau ist die Entdeckung, daß sie nicht unberührt in die Ehe gegangen ist. Denn der Verlust der Jungfräulichkeit bringt zuerst über die Familie des Mädchens selbst und dann über die Familie ihres Ehemannes fortdauernde Schande, die, wie man sagt, nur mit Blut getilgt werden kann - auch wenn das Mädchen in Wirklichkeit ganz und gar unschuldig ist, wenn es zum Beispiel vergewaltigt worden ist oder, was angeblich gar nicht so selten vorkommt, durch eine Laune der Natur ohne Jungfernhäutchen oder mit einem elastischen Jungfernhäutchen geboren worden ist; denn ein solches blutet nicht. Und ein blutendes Jungfernhäutchen, glauben Sie mir, ist das mit Abstand wichtigste Element einer Hochzeit, nicht nur in Oberägypten, sondern sogar in den volkstümlicheren Stadtvierteln Kairos.
Denn unmittelbar nach dem sogenannten Vollzug der Ehe schwenkt entweder der Brautvater oder der Bräutigam voller Stolz ein blutbeflecktes weißes Handtuch vor den Augen der an der Tür des Brautgemaches versammelten Verwandtschaft, die also damit bezeugen kann und soll, daß das Jungfernhäutchen der Braut und damit die Ehre der Familie unangetastet war. Und sie bezeugt es auch, indem die Männer die Trommeln schlagen und die Frauen ihre langgezogenen Freudentriller anstimmen.
An dieser Stelle wurde Myriam erneut unterbrochen, nicht durch einen Freudentriller aus weiblicher Kehle, sondern höchst rüde durch einen entrüsteten Aufschrei aus weiblicher Kehle, und er lautete: 'Aufhören!' Gleich darauf war ein nicht weniger entrüsteter Aufschrei aus männlicher Kehle zu hören, und der lautete: 'Jawohl! Aufhören! Das ist ja im höchsten Maß empörend!' Aha, jetzt erkannte ich die beiden Kehlen: sie gehörten der Frau Giftzwerg und dem Herrn Giftzwerg. Und Myriam? Ich blickte mich rasch zu ihr um: sie war zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarrt. Was sollte ich jetzt tun? Schön peinlich, was?
Aber wie sich's schon im nächsten Moment herausstellte, brauchte ich überhaupt nichts zu tun; das erledigten meine Leute ganz von selber. Jetzt brach nämlich hinter uns schlagartig ein gewaltiger Tumult aus, und alle fielen, bildlich gesprochen, wütend über die Familie Giftzwerg her und zerrissen sie nach Strich und Faden, und die wehrten sich ihrer Haut, so gut sie es bei dieser Überzahl konnten, und ich drehte mich erneut zu Myriam um und merkte,
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