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Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Titel: Geliebte Myriam, geliebte Lydia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Plepelits
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gleichermaßen von den ägyptischen wie den griechischen Oasenbewohnern, der ägyptische Gott Sobek (griechisch Suchos) verehrt, ein Gott mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Krokodils, so daß die Hauptstadt der Oase, an der Stelle der heutigen Hauptstadt, den griechischen Namen Krokodilopolis erhielt.
    An dieser Stelle unterbrach ich Myriam - ich durfte nämlich wieder neben ihr auf dem Reiseleitersitz sitzen, und Machmut zwinkerte mir gelegentlich mit einem verschmitzten Grinsen zu -, entriß ihr das Mikrophon und erklärte, daß eine solche Verehrung einheimischer Götter durch Zuwanderer vor dem Aufkommen des Christentums keineswegs etwas Außergewöhnliches gewesen sei, im Gegenteil, das sei außer bei den Israeliten der Normalfall gewesen. Religiöse Intoleranz mitsamt ihren bedauerlichen Folgen sei erst mit dem Christentum und dem Islam aufgekommen. Deshalb hätten sich zum Beispiel auch die Römer niemals in die religiösen Angelegenheiten der von ihnen unterworfenen Völker eingemischt, außer wo's um die Abschaffung von Menschenopfern gegangen sei, und die Christenverfolgungen seien kein Gegenbeweis, denn die seinen keine religiöse, sondern eine politische Frage gewesen.
    Damit übergab ich Myriam wieder das Mikrophon, und sie setzte ihren Vortrag fort. Sie wies darauf hin, daß wir mit dem Faijum bereits Oberägypten betreten würden. Tatsächlich befinde sich die Grenze zwischen Unter- und Oberägypten irgendwo zwischen Kairo und Memphis. Unterägypten sei praktisch nur das Nildelta und Oberägypten das gesamte schmale Niltal südlich davon. In der altägyptischen Zeit seien diese beiden Teile Ägyptens stets als zwei eigene Länder betrachtet worden, und der Pharao sei somit niemals einfach König von Ägypten gewesen, sondern stets König von Unterägypten und zugleich König von Oberägypten.
    Schon im Altertum herrschten in Unter- und Oberägypten voneinander recht unterschiedliche Lebens- und Denkgewohnheiten, und dieser Unterschied gilt heute noch genauso. Auch heute sind die Sitten und Gebräuche in Oberägypten noch bedeutend urtümlicher als in Unterägypten oder gar in Kairo. So spielt etwa die Blutrache in Oberägypten noch immer eine wichtige Rolle. Die kleinste Einheit der Gesellschaft ist hier nämlich nicht die Kernfamilie, die nur aus einem Ehepaar und dessen Kindern besteht, sondern die Großfamilie, und diese hat viele Mitglieder: Großvater und Großmutter, die Väter und die Mütter, die Onkel und Tanten väterlicherseits und die Onkel und Tanten mütterlicherseits, die Brüder, die Schwestern, die Kinder.
    Wird nun ein Mitglied der Großfamilie getötet, so muß nach dem ungeschriebenen Gesetz der Blutrache der Täter sterben - oder, falls dies nicht möglich ist, irgendein anderes männliches Mitglied seiner Großfamilie. Für einen oberägyptischen Mann bedeutet es auch heute noch eine untilgbare Schande, wenn die Rache der Großfamilie nicht durch ihn, sondern durch die Polizei vollzogen wird, und den Tod durch die eigene Großfamilie bedeutet es gar für ihn, wenn er aus Humanität, oder um den nicht enden wollenden Kreislauf der gegenseitigen Blutrache zu beenden, auf den Vollzug der Blutrache verzichtet.
    Frauen sind übrigens von diesen Vergeltungsmaßnahmen ausgenommen. Eine Frau kann zwar zum Anlaß der Blutrache werden, aber niemals ist es ihr Blut, das Rache fordert - so poetisch drückt man sich dabei aus. Und warum darf eine Frau niemals die Blutrache ausüben? Ganz einfach, weil ihr Wert geringgeschätzt wird, oder vielleicht noch deutlicher: weil sie kaum als menschliches Wesen gilt.
    An dieser Stelle wurde Myriam in ihrem Vortrag durch einen vielstimmigen empörten Aufschrei aus den weiblichen Kehlen hinter uns unterbrochen, und gleichzeitig hörte man aus mehreren männlichen Kehlen reichlich hämisches Gekicher. Jetzt stand Myriam auf und überließ mir dadurch den ganzen Reiseleitersitz; sie drehte sich zu meinen Leuten um und bekräftigte mit großem Ernst, was sie eben gesagt hatte: jawohl, sie habe keineswegs übertrieben: die Frauen gelten in ganz Ägypten, besonders aber in Oberägypten, kaum als menschliche Wesen. Beispiele gefällig?
    Nun, die Ehemänner dürfen nach dem Gesetz, den Vorschriften der islamischen Religion und dem Maßstab guter Sitten in vollkommen verantwortungsloser Weise mit ihren Frauen umgehen. Grausame und ungerechte Gesetze erlauben ihnen jedes beliebige Verhalten. Ein Mann kann nach Belieben seine Autorität beweisen und

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