Geliebte Rebellin
einen Moment lang wehmütig. »Ich kann mir gut vorstellen, dass sie ihre Schwester vermisst«
»Mr. St. Ives' Mutter?«
»Ja. Emma ist vor vier Jahren gestorben. Als die beiden noch jünger waren, haben sie und Rosalind dafür gesorgt, dass immer etwas los war. Man hat sich keinen Moment gelangweilt. Emma ist allerdings immer die wildere von den beiden gewesen. Ihre Affäre mit Esherton hat bis zum Tag ihres Todes bestanden. Ich sage Ihnen, es ist kaum zu glauben, dass St. Ives der Nachwuchs dieses Paares ist.«
»Warum sagen Sie das?«
»Von seinem Temperament her ist der junge Baxter das genaue Gegenteil seiner Eltern. Nun ja, in mancherlei Hinsicht schlägt er Esherton schon nach. Diese Augen sind natürlich unverwechselbar, und er hat das dunkle Haar seiner Mutter. Aber ihm gehen Emmas Sinn für Humor und ihre forsche Art ab, und er besitzt noch nicht einmal einen Hauch von dem Stil der St. Ives, wie ich zu meinem Bedauern sagen muss«
»Was hat es mit dem Stil der St. Ives auf sich?«
»Sie wissen doch selbst, was man sich über die Männer dieser Ahnenreihe erzählt. Sie tun alles mit Stil. Hamilton wird dem Ruf seiner Familie gerecht, aber ich schwöre es Ihnen, Baxter sieht ganz so aus, als verdiente er sich seinen Lebensunterhalt damit, dass er eine Anstellung als Sekretär angenommen hat.«
»Der Schein kann trügen, Sir. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«
»Ja, selbstverständlich. Gewiss doch. Es hat mir großen Spaß gemacht, mit Ihnen zu tanzen.«
Charlotte wandte sich ab und ging auf die weit offenstehenden Flügeltüren zu, die die Abendluft in den Ballsaal hineinließen.
Draußen war die große Terrasse von bunten Lampions erhellt. Da und dort im Schatten murmelten Paare und lachten leise, und über den weitläufigen Gärten erstreckte sich die Dunkelheit.
In der Nähe der Terrasse war keine Spur von Baxter zu sehen, doch Charlotte war sich so gut wie sicher, dass er nicht in den Ballsaal zurückgekehrt war.
Der Mondschein reichte gerade aus, um die scharfen Umrisse von gestutzten Hecken und dichten Sträuchern erkennen zu lassen. Baxter war irgendwo dort draußen. Er konnte der feinen Gesellschaft nichts abgewinnen, und es sah ihm ähnlich, sich in die Einsamkeit der Gärten zurückzuziehen, bis die Zeit zum Aufbruch nahte.
Sie ging die steinernen Stufen hinunter und lief über den Pfad, der sich ins Herz des Gartens schlängelte. Ihre weichen Glacelederschuhe verursachten kein Geräusch auf den alten Platten des Gehwegs. Die Nachtluft war frisch. Charlotte verschränkte die Arme und presste sie eng an sich, um die Kälte abzuwehren. Lange würde sie sich ohne ihren Umhang nicht im Freien aufhalten können.
Eine leise weibliche Stimme, die besorgt klang, ließ Charlotte abrupt stehenbleiben. Auf der anderen Seite der Hecke zu ihrer Linken schien ein Paar ein ernstes Gespräch zu führen. Sie wollte ihren Weg gerade fortsetzen, als sie Baxters unwirsche Erwiderung hörte, deren Tonfall so typisch für ihn war.
»Ich weiß nicht, was, zum Teufel, du von mir erwartest, Maryann. Ich kann in dieser Angelegenheit nichts unternehmen. Hamilton ist zweiundzwanzig Jahre alt.« Baxter zögerte kurz, ehe er trocken hinzufügte: »Und schließlich ist er der Earl von Esherton.«
»Er ist in vielerlei Hinsicht immer noch ein Junge.« Aus den Worten der Frau war Verzweiflung herauszuhören. »Und er ist seinem Vater so ähnlich. Du musst etwas unternehmen, Baxter. Seit dem Tod seiner Lordschaft wird Hamilton zunehmend halsstarriger und unbesonnener in seinem Handeln. Ich dachte erst, es sei nur eine vorübergehende Phase, bis er sich von seinem Kummer erholt hat. Aber in der letzten Zeit stellen er und sein bester Freund Norris . . .«
»Lennox' Erbe ?«
»Ja. Die beiden haben sich einen neuen Umgang gesucht, und ich befürchte das Schlimmste. Sie gehen abends nicht mehr in die Clubs, die sie früher aufgesucht haben. Hamilton hat mir erzählt, sie hätten eine Vorliebe für einen neuen Club, den sie erst kürzlich entdeckt haben. Es handelt sich dabei um ein Lokal, das sich Der Grüne Tisc h nennt.«
»Viele junge Männer ziehen die Clubs vor, die sich auf ein jüngeres Publikum eingestellt haben und nicht nur Männer aus der Generation ihrer Väter anlocken.«
»Ja, aber ich glaube, dass es sich bei diesem Lokal um nichts anderes als um eine Spielhölle handelt.«
»Beruhige dich, Maryann. Hamilton kann das Esherton-Vermögen nicht in einer einzigen Nacht verspielen. Sicher erinnerst
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