Geliebter Barbar
wieder zu empfindlich? Ich weiß nicht mehr, ich bin zu müde.«
Sie war sogar völlig erschöpft. Er hatte wohl nicht genug auf sie geachtet, sonst wäre ihm die dunklen Schatten unter ihren Augen schon vorher aufgefallen. Sie hatte seine Hand bei ihrem Ausbruch ergriffen und noch nicht wieder losgelassen.
Ja, Judith sah müde, besiegt und einfach wunderschön aus.
Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. »Ihr müßt jetzt hineingehen. Ich werde gerne hier draußen auf Euch warten.«
Er lächelte sie an und zog seine Hand aus der ihren. »Ich wäre aber glücklicher, wenn Ihr mit hineingehen würdet«, sagte er und schaute sie bittend an.
Dann ließ er keine weitere Diskussionen mehr zu, legte ihr den Arm um die Schultern, drückte sie leicht und schob sie in Richtung Tür.
»Ihr sagtet ja schon, daß Ihr vielleicht wieder einmal zu empfindlich reagiert«, sagte er, während er sie zum Haus führte, wobei er ignorierte, daß sie sich in seinem Arm steif wie ein Brett machte. Diese Frau hatte wirklich einen sturen Charakter – eine Schwäche, die ihn aber amüsierte. Keine Frau hatte sich ihm gegenüber je so übel gelaunt gezeigt: Judith war sehr verschieden von den Frauen, die er bisher kennengelernt hatte. Alle paar Augenblicke warf sie ihm einen Blick zu, und er fand ihre Reaktionen erfrischend ehrlich. Sie versuchte nicht, ihn zu beeindrucken, und es lag absolut nicht in ihrer Natur, sich vor ihm demütig zu geben. Seltsam – doch ihr ungehemmtes Benehmen machte ihn frei. Er mußte vor ihr nicht den Clansherrn herauskehren. Die Tatsache, daß sie eine Fremde war, schien die Ketten der Tradition, die ihm als Führer seines Clans auferlegt waren, zu sprengen.
Iain mußte sich zu der Frage zwingen, die ihn beschäftigte.
»Wann habt Ihr zum ersten Mal überreagiert?« fragte er endlich.
»Als Ihr mich geküßt habt!« flüsterte sie, als sie die Türschwelle erreicht hatten.
»Ich verstehe nicht«, sagte er. »In welcher Hinsicht?«
Sie konnte spüren, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und schüttelte den Arm von ihrer Schulter. »Ihr wart offensichtlich wütend auf mich … danach. Und das machte mich auch wütend. Es hätte mich nicht kümmern sollen«, fügte sie mit einem bekräftigenden Nicken hinzu.
Sie wartete nicht ab, bis er auf ihre ehrliche Antwort reagierte. Statt dessen eilte sie hinein, wo die ältere Frau, die sie im Schatten des Türrahmens bemerkt hatte, auf sie zukam, um sie zu begrüßen. Das Lächeln dieser Frau schien Judith aufrichtig zu sein, und als sie es erwiderte, fiel ein großer Teil der Spannung von ihr ab.
Margaret war eine hübsche Frau. Die kleinen Fältchen um ihre Augen und den Mund verminderten ihre Anziehungskraft nicht. Sie hatte wunderschöne grüne Augen, in denen goldene Sprenkel funkelten, und ihr dichtes braunes Haar, das sie im Nacken zu einem Zopf geflochten trug, war mit grauen Strähnen durchzogen. Obwohl gut einen Fuß größer als Judith, war sie alles andere als einschüchternd; sie strahlte pure Freundlichkeit aus.
»Danke, daß Ihr mich in Eurem Heim aufgenommen habt«, sagte Judith mit einem kleinen Knicks.
Margaret wischte sich die Hände an ihrer weißen Schürze ab, bevor sie den Knicks erwiderte. »Wenn Ihr am Tisch Platz nehmen mögt, werde ich das Essen fertig machen.«
Judith wollte nicht dort bei den Männern sitzen. Iain hatte sich zu ihnen gesellt, und Cameron beugte sich gerade über den Tisch, um ihm von dem goldenen Wein einzuschenken. Judiths Kehle zog sich augenblicklich zusammen. Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Ein einziger Becher Wein würde ihn doch nicht bösartig werden lassen wie Onkel Tekel … oder? Sie sagte sich selbst, daß dieser Gedanke absolut lächerlich war. Denn Iain war vollkommen anders als der Onkel. Er würde nicht grausam werden. Er nicht.
Zufällig sah Iain auf und entdeckte sofort, daß mit Judith irgend etwas nicht stimmte. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie sah aus, als hätte ihr etwas einen furchtbaren Schreck eingejagt. Er wollte gerade aufstehen und zu ihr gehen, als er bemerkte, daß sie auf seinen Becher starrte. Was in Gottes Namen war in sie gefahren?
»Judith? Möchtet Ihr gerne etwas von dem …«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wäre Wasser nach so einer langen Reise … nicht viel erfrischender?« fragte sie.
Er lehnte sich zurück. Offenbar maß sie dem, was sie tranken, verflucht viel Bedeutung bei, wobei er sich nicht im mindesten vorstellen konnte,
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