Geliebter Fremder
bestimmt nicht, dachte Isabel. Sie kannten sich nun seit Jahren und hatten sechs Monate zusammengelebt, ohne dass es zwischen ihnen gefunkt hatte. Aber jetzt stand sie in lodernden Flammen, sobald sie ihn nur ansah. Wenn man es genau betrachtete, war sie auch nicht ganz bei Sinnen. »Ich muss ihm eine Frau suchen«, stieß sie hervor.
»Bist du denn keine? Eigentlich dachte ich, der Arzt hätte gesagt, du seist ein Mädchen.«
»Mutter, bitte! Im Ernst: Gray braucht eine Mätresse.«
Isabel ging zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite und starrte hinunter in den kleinen Garten. Unwillkürlich kam ihr der Morgen in den Sinn, als Gray unter dem Fenster ihres Stadthauses aufgetaucht war und sie angefleht hatte, ihn einzulassen. Und dann, ihn zu heiraten.
Sag Ja, Pel.
Eine noch frischere Erinnerung kam ihr, und zwar vom Tag zuvor, als Gray genau hier hinter ihr gestanden, ihr Verlangen geweckt und damit alles kaputt gemacht hatte.
»Wieso braucht er eine Mätresse, wenn er das Bett mit dir teilen will?«, erkundigte sich die Duchess.
»Das würdest du nicht verstehen.«
»Da hast du recht.« Ihre Mutter kam zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich dachte, du hättest etwas von Pelham gelernt.«
»Ich habe alles von Pelham gelernt.«
»Und vermisst du nicht die Leidenschaft, das Feuer?« Die Duchess breitete die Arme aus und drehte sich so ausgelassen wie ein junges Mädchen im Kreis, dass ihr dunkelgrüner Rock ihr um die Beine wirbelte. »Ich lebe dafür, Bella. Ich verzehre mich nach solchen unanständigen Blicken und Gedanken und Handlungen.«
»Das weiß ich, Mutter«, sagte Isabel trocken. Ihre Eltern hatten schon vor langer Zeit entschieden, sich außerhalb ihrer Ehe umzutun – ein Arrangement, mit dem beide zufrieden zu sein schienen.
»Als du dir selbst einen Geliebten nahmst, dachte ich, du hättest dir die alberne Idee von der großen ewigen Liebe aus dem Kopf geschlagen.«
»Das habe ich auch.«
»Ich glaube nicht«, erwiderte ihre Mutter stirnrunzelnd.
»Bloß weil ich Treue für ein Zeichen des Respekts halte, heißt das noch lange nicht, dass ich an die große Liebe glaube oder darauf hoffe.« Isabel ging wieder zu ihrem Schreibtisch, wo sie an einer Gästeliste und der Speisefolge für ihr Dinner gearbeitet hatte.
»Meine süße Bella.« Ihre Mutter seufzte und kehrte zu ihrem Sessel zurück, wo sie sich eine Tasse Tee einschenkte. »Es liegt nicht in der Natur von Ehemännern, treu zu sein, vor allem nicht, wenn sie gut aussehen und charmant sind.«
»Dann sollen sie wenigstens nicht lügen«, entgegnete Isabel verärgert und warf einen Blick zum Porträt an der Wand. »Ich habe Pelham gefragt, ob er mich liebe und mir treu sein würde. Er sagte: ›Vor dir verblassen alle anderen.‹ Und ich war auch noch so dumm, ihm zu glauben.« Sie warf die Hände in die Höhe.
»Selbst wenn sie die besten Absichten haben, können sie doch nicht den flatterhaften Frauen widerstehen, die ihnen geradezu ins Bett fallen. Es kann nur Kummer bringen, wenn man sich von einem gut aussehenden Mann wünscht, gegen seine Natur anzukämpfen.«
»Offensichtlich wünsche ich nicht, dass Gray gegen seine Natur ankämpft. Sonst würde ich ihm ja keine Geliebte suchen.«
Isabel sah zu, wie ihre Mutter drei Zuckerstückchen und einen absurd großen Klacks Sahne in ihren Tee gab. Sie schüttelte den Kopf, als die Duchess die Teekanne hob und sie fragend anschaute.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum du nicht seine Aufmerksamkeiten genießen willst, wenn er sie dir doch anbietet. Mein Gott, so wie Lady Pershing-Moore ihn beschrieben hat, würde ich selbst ihn noch nehmen, wenn er interessiert wäre.«
Isabel schloss die Augen und atmete geräuschvoll aus.
»Du solltest dir ein Beispiel an deinem Bruder nehmen, Bella. Er ist in diesen Dingen viel pragmatischer.«
»Das sind die meisten Männer. Rhys ist da keine Ausnahme.«
»Er hat eine Liste heiratsfähiger Frauen angelegt –«
»Eine Liste?« Isabel riss die Augen auf. »Das reicht jetzt aber!«
»Nein, das ist doch perfekt. Dein Vater und ich haben dasselbe gemacht, und sieh nur, wie glücklich wir sind.«
Isabel hielt ihre Zunge im Zaum.
»Hält dich die Zuneigung zu Hargreaves zurück?«, fragte ihre Mutter sanft.
»Ich wünschte, es wäre so. Das würde alles viel einfacher machen.« Dann hätte sie Grays plötzliches Interesse an ihr ignorieren und ihn wie jeden anderen übereifrigen Galan abweisen können: mit Humor und einem
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