Geliebter Lord
sich ihr wieder zu. »Weil ich an Euch denken musste, Mary Gilly.«
»An mich?« Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt.
»Ich fragte mich, ob Ihr eine
einsame
Witwe seid. Seid Ihr es?«
Ihre Patienten stellten ihr nie persönliche Fragen – außer höfliche wie nach ihrem Befinden oder dem Verlauf ihres Tages. Keiner wollte wissen, was sie dachte oder welche Meinung sie zu einem Thema hatte, geschweige denn, ob sie einsam war.
Sie faltete die Hände und antwortete: »So sehr, dass ich manchmal weinen könnte.« Zu unverblümt vielleicht, aber es war, als hätte die Nacht die allgemein zwischen Fremden übliche Zurückhaltung außer Kraft gesetzt.
Er sagte nichts, sah sie nur an, und sie betrachtete ihn ihrerseits im Schein der Flammen. Er war absolut nicht anziehend, zumindest nicht auf die Art, wie es ein gutaussehender Mann war – aber er war zum Krieger geboren, zum Anführer. Trotzdem hatte er sich hier in diesen Turm verkrochen, scheute die Gesellschaft von Menschen.
»Und wie ist es mit Euch, Hamish MacRae? Ist es Einsamkeit, was Euch nicht schlafen lässt?«
»Nein.« Er trat auf sie zu, und sie ließ es geschehen, dass er das Tuch um ihre Schultern zurechtzog und dann seine Hand dort liegen ließ, so dass sie die Wärme durch die Wolle hindurch spüren konnte.
»Ich wäre froh, die Einsamkeit als Begründung angeben zu können, Mary Gilly, aber sie ist nicht schuld daran, dass ich nicht schlafen kann – oder dass mich, wenn doch, Alpträume heimsuchen.«
»Was immer Ihr mir anvertraut, Mr. MacRae, bleibt unter uns«, sagte sie sanft.
»Ich bin nicht bereit, meine Seele zu entblößen – ebenso wenig wie meine Wunden.«
Er deutete eine Verbeugung an und steuerte auf die Treppe zu.
Als sie ihn die Stufen erklimmen sah, begann sie Freude zu durchfluten. Das erlebte sie manchmal, wenn die Behandlung eines Patienten eine deutliche Verbesserung bewirkte. Nie zuvor jedoch hatte sie diese Freude
vor Beginn
empfunden, und sie vermutete, dass es wenig mit Medizin, aber viel mit Hamish MacRae zu tun hatte.
Kapitel 5
M ary erwachte erholt und dankbar, dass Betty sie nicht geweckt hatte. Als sie die Augen öffnete, begriff sie, dass sie nicht zu Hause in Inverness war, sondern in ihrem Turmzimmer auf Castle Gloom.
Sonnenschein drang durch die Schießscharten herein, also musste es schon ziemlich spät sein.
Sie setzte sich auf und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Dann erhob sie sich, zog ein praktisches, braunes Leinenkleid an und wählte ein beigefarbenes Schultertuch dazu. Dann löste sie den Zopf, bürstete ihr Haar, schlang es zu einem straffen Nackenknoten und setzte eine weiße Rüschenhaube auf.
Nachdem sie das Bett gemacht hatte, holte sie ihren Arztkoffer, stellte ihn auf die Pritsche und klappte ihn weit auf, zog die Schürze an und steckte die Arzneien, von denen sie annahm, dass sie sie vielleicht brauchen würde, in die Tasche.
Jetzt galt es wieder, die Treppe zu bezwingen. Hinunterzusteigen war ebenso schwierig für sie wie das Hinaufsteigen, doch sie hoffte, dass die ständige Übung während ihres Aufenthalts hier ihr die Angst nehmen würde.
Sie hatte sich zu Hause vorgenommen, nicht länger als eine Woche fortzubleiben – sonst würde sie das vor Wochen verabredete Treffen mit Mr. Marshall versäumen. Der berühmte Autor und Prediger hatte sich tatsächlich bereitgefunden, sich mit ihr zusammenzusetzen und über Behandlungsmethoden zu diskutieren, was angesichts seiner vielen Termine eine ganz besondere Ehre war. Die Reise hierher hatte einen Tag in Anspruch genommen, also würde der Rückweg ebenso lange dauern, womit ihr fünf Tage blieben, um Hamish zu behandeln.
Doch soviel sie inzwischen begriffen hatte, brauchte der Mann nicht so sehr medizinische Hilfe als vielmehr einen verständnisvollen Zuhörer. Nur sein Arm bereitete ihr Sorge. Was konnte die Lahmheit verursacht haben? Die verschiedenen Möglichkeiten im Geist zu erwägen erleichterte ihr den unangenehmen Gang die Treppe hinunter erheblich.
Der Tag war ausgesprochen warm für die Jahreszeit, und die Luft roch nach Meer. Die Vögel in den Bäumen jenseits der Brücke zwitscherten fröhlich und so laut, dass Mary die Stimme erheben musste, um gehört zu werden, als sie Brendan begrüßte.
»Guten Morgen.« Sie nickte ihm und Micah zu, die einen Stamm zersägten. Zweifellos weiteres Feuerholz auf Hesters Geheiß. An der Burgmauer war Holz aufgeschichtet, und gleich neben dem Tor lag ein frisch gefällter
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