Geliebter Lord
Baum im Hof.
Brendan hatte sein Hemd ausgezogen, und seine Haut glänzte in der Morgensonne. Nach der Bräune zu schließen, arbeitete er oft mit nacktem Oberkörper.
»Hat Euer Bruder die Absicht, den ganzen Winter hier zu verbringen?« Sie ließ den Schöpfeimer in den Brunnen hinunter.
»Warum habt Ihr ihn das letzte Nacht nicht selbst gefragt, Engel?«
Sie spürte ihre Wangen warm werden und wunderte sich darüber. Sie war keine Miss, keine Jungfer. Warum reagierte sie wie ein unschuldiges Mädchen?
»Ihr habt uns gehört?«
»Der Turm ist hellhörig. Aber verstehen konnte ich nichts.«
»Ich bin keinen Schritt weitergekommen. Er weigert sich noch immer, sich von mir behandeln zu lassen.«
»Heißt das, dass Ihr aufgebt?«
»Natürlich nicht«, erwiderte sie entschieden. »Ihr habt mich hierhergebracht, damit ich Euren Bruder behandle, und ich
werde
ihn behandeln.«
»Auch wenn er es nicht will?«
»Ein Kranker ist wie ein Kind. Liebende und kluge Eltern fragen das Kind nicht, was es tun
will
– sie sagen ihm, was es tun
soll.«
Brendan grinste. »Dann werdet Ihr also seine Mutter sein.«
Sie nickte nur, ging nicht auf die Herausforderung ein. Ebenso wenig hatte sie die Absicht, ihm ihren Behandlungsplan zu erläutern. Die meisten Menschen verstanden nicht, dass Medizin ein Ratespiel war. Je mehr Erfahrungen sie sammelte, umso klarer wurde Mary, dass jeder Patient einzigartig war. Darum war es gut möglich, dass eine Behandlung, die in einem Fall wirkte, in einem anderen wirkungslos blieb.
Matthew Marshall wusste das. In seinem Buch
The Primitive Physick
hatte er erklärt, dass wirksame Behandlungen auf praktischen Erfahrungen basierten, nicht auf theoretischen Betrachtungen.
»Ich werde ihn behandeln«, bekräftigte sie, »auch gegen seinen Willen.«
Sie trug den Eimer in die Küche, um das Wasser dort für ihre Morgentoilette zu erhitzen. Einer von Matthew Marshalls Grundsätzen besagte, dass Reinlichkeit lebenswichtig sei, und Mary hatte festgestellt, dass sie es mit weniger Infektionen zu tun hatte, seit sie sich vor der Behandlung eines Patienten die Hände mit heißem Wasser wusch. Vor der Behandlung eitriger Wunden traf sie auch andere Vorsichtsmaßnahmen wie das Einstäuben der Hände mit Borsäurepulver und das Anlegen eines Mundschutzes.
Hester lächelte. Sie sah so glücklich aus wie ein Kind, das einen neuen Ball geschenkt bekommen hatte. Die Küche war makellos sauber, die Packkisten entfernt und das Geschirr abgewaschen und in dem eingebauten Schrank verstaut. Ein köstlich duftender Eintopf brodelte über dem Feuer, und etwas ebenso Delikates stand zum Abkühlen am Ende des langen Tisches.
»Ihr seid ja schon fleißig gewesen heute«, bemerkte Mary.
Hester nickte. »Das Castle schreit förmlich nach ein wenig liebevoller Fürsorge. Ich habe übrigens in einer Ecke des Burghofs einen Kräutergarten entdeckt, voller Unkraut, natürlich, aber ich fand immerhin Rosmarin, Thymian und Minze.« Sie stellte einen Teller mit einer Scheibe Fleischpastete vom Abend zuvor auf ein Tablett, auf dem bereits ein irdener Krug mit Ale und ein Becher standen, und ging damit auf die Tür zu.
»Ist das für Hamish MacRae?«, fragte Mary.
Hester nickte amüsiert, als wäre die Vorstellung, Brendan oder ihren Ehemann zu bedienen, erheiternd.
»Ich bringe es ihm«, sagte Mary.
»Sein Bruder wollte es hinauftragen – nicht ich.«
»Vielleicht heißt er mich willkommen, wenn ich ihm etwas zu essen bringe.«
»Ist er unleidlich?« Hester überließ ihr das Tablett. »Das haben Männer so an sich – vor allem, wenn es ihnen schlechtgeht.«
Sie war allerdings nicht ganz sicher, ob Hamishs Gesundheitszustand für seine Unleidlichkeit verantwortlich war.
Mary überquerte den Hof und nickte im Vorübergehen Brendan zu, der nach einem Blick auf das Tablett in ihren Händen zu grinsen begann. Sie runzelte tadelnd die Stirn, doch es nutzte nichts – er grinste weiter. Als freute er sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung.
Nachdem Hamish in der vergangenen Nacht keinen Zweifel daran gelassen hatte, was er von ihrer Anwesenheit auf dem Castle hielt, hätte sie ihn vielleicht in Ruhe lassen sollen, aber seine verwundete Seele ging ihr ans Herz. Er wäre entsetzt, wenn er das wüsste. Wahrscheinlich war er deshalb so erpicht darauf, dass sie Castle Gloom verließ – ein Mann wie Hamish MacRae wollte sich keine Schwäche anmerken lassen, nicht einmal die Schwäche, menschlich zu sein.
Auf dem
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