Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
und Reisen gesprochen, über Skifahren, über das Essen und Weine und Kochen – alles ganz normal.
»Wirklich sehr nett und entspannt«, sagte ich zu Hannah.
Doch ich erzählte ihr nicht alles, weil ich mir bescheuert vorkam. Ich erzählte nicht von den Kleinigkeiten, die mich irritiert hatten, ohne sagen zu können, warum.
Manchmal, wenn ich vom Teller aufgeschaut hatte, bemerkte ich, dass mich einer von Claus’ Freunden anstarrte, seinen Blick aber schnell wieder senkte. Claus selbst hatte die ganze Zeit ziemlich verkrampft gewirkt; er hatte zu oft zu laut gelacht und mir immer wieder Blicke zugeworfen, die ich nicht hatte deuten können.
Die zu früh beschwipste Johanna hatte mich gefragt – als sie schon weit mehr als nur beschwipst gewesen war: »Du kennst doch bestimmt Claus’ Vorgeschichte?«
»Ähm … Vorgeschichte?«, hatte ich zurückgefragt. »Ja, also, ich kenne ihn ja erst seit ein paar Monaten, und natürlich haben wir uns viel erzählt, aber … Ich weiß nicht?«
»Ach so.« Johanna hatte gehustet und ihre Finger in die Länge gezogen, bis die Knöchel knackten.
»Was meinst du mit Vorgeschichte?«
»Ja … Also …«
Sie hatte eine lange Pause gemacht und weiter ihre Knochen knacken lassen. Meine Nackenhaare hatten sich gesträubt bei dem Geräusch.
»Dass er viel Erfahrung mit Frauen hat und kein Kostverächter ist? Meinst du das? Ja, das habe ich natürlich schon gemerkt«, hatte ich schnell gesagt.
Johanna hatte ihren Zeigefinger losgelassen.
»Ja, ja! Genau das habe ich gemeint. Claus, der alte Weiberheld! Er bricht die Herzen der stolzesten Frauen. Hahaha.«
Sie hatte hinter vorgehaltener Hand leise gerülpst und sich ohne ein weiteres Wort dem anderen Sitznachbarn zugewandt.
Meine Güte, ist die besoffen, hatte ich gedacht.
Trotzdem hatte ich mir nicht verkneifen können, Claus die Hand auf den Arm zu legen und leise nachzufragen: »Du, sag mal, was meint Johanna eigentlich, wenn sie von deiner ›Vorgeschichte‹ spricht?«
Claus hatte angefangen, schallend zu lachen, Johanna auf den Oberarm geboxt, sodass sie aufschrie, und hatte dann etwas von seiner »wilden Zeit« erzählt.
»Und ich dachte immer, du bist so ein konservativer Spießer«, hatte ich gesagt. Claus hatte wieder gelacht, so laut, dass ich zurückwich.
Plötzlich war Anna aufgestanden und hatte mich gebeten, ihr kurz in der Küche zu helfen, sie wolle mein Tiramisu servieren.
Danach hatte es keine Gelegenheit mehr gegeben, das Thema »Vorgeschichte« anzusprechen, und am nächsten Morgen schien es nicht mehr so wichtig zu sein.
Jetzt dagegen scheint es nichts Wichtigeres mehr zu geben.
Ich sitze mit angezogenen Knien auf meiner Designercouch, eingehüllt in meine Kuscheldecke, sehe ihn an und warte.
»Also. Ich war im Knast.«
Mein allererster Gedanke ist, wie absurd sich das Wort »Knast« aus seinem Mund anhört. Komisch, dass er nicht Gefängnis sagt, denke ich. Er, der konservative Manager im Finanzwesen.
Und mein nächster Gedanke ist, wie abwegig dieser erste Gedanke war.
Sollte ich jetzt nicht etwas anderes, Wichtigeres denken und vor allem fühlen? Entsetzt sein, zum Beispiel?
Stattdessen kichere ich, keine Ahnung warum. Spannungsabbau vielleicht.
»Im Knast?«
»Bitte, lach nicht, da gibt’s nichts zu lachen.«
»Entschuldige, nein, natürlich nicht.«
Knast. Gefängnis. Bau. Alcatraz. Schwerverbrecher mit Tattoos. Vergewaltigungen unter der Dusche. Tütenkleben. Gitter überall. Stockbetten. Feilen im Kuchen. Hofgänge. Enge Zellen. Schlechtes Essen. Lebenslänglich. Gemeine Wärter mit großem Schlüsselbund.
Die Bilder, die durch meinen Kopf schießen, kommen von Filmen und Knastreportagen auf RTL .
Wladi und das lipglossige Langbein fallen mir ein.
»Wladi kennst du …«
»… aus dem Knast. Hatte fünf Jahre. Wegen bewaffneten Raubüberfalls.«
»Aber du hast gesagt, du kennst ihn aus dem Fitness-studio!«
»Nein, ich habe gesagt: vom Krafttraining. Krafttraining im Knast. Ich habe dich nie angelogen, auch wenn das manchmal ganz schön schwer war.«
Gewichte stemmende Knackis. Und einer davon sitzt jetzt auf meiner Couch. Bitte, lieber Gott, lass es Betrug sein, bete ich still vor mich hin.
Trotzdem frage ich nicht das Naheliegende: Warum warst du im Gefängnis, was hast du getan?
Ich frage: »Wie lange?«
»Verurteilt hat man mich zu elf Jahren. Raus war ich nach sieben.«
Elf Jahre? Elf? Das bedeutete: ein schweres Verbrechen.
Bitte, lieber Gott, lass es einen
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