Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
oder sonst irgendwo rauskann. Ich hatte genügend Zeit dafür, ich habe ja sonst nichts gemacht.«
»Und bei diesem ging es.«
»Du hast ja selbst gesehen, wie leicht es ist.«
Ich nicke langsam.
»Ja, das habe ich. Ich bin einfach rein und rauf. Ich hatte es mir viel schwieriger vorgestellt.«
»In welchem der drei Gebäude warst du?«
»Dem, das der Straße am nächsten liegt. War es das?«
Claus wartet ein paar Sekunden mit der Antwort.
»Ja. Genau das war es.«
»Habe ich mir irgendwie gedacht.«
»Musstest du bei jemandem klingeln?«
»Nein, die Haustür stand offen.«
»Echt? Ich habe damals geklingelt …«
»… und gesagt, du würdest Prospekte verteilen?«
»Nein, dafür war es zu spät. Ich habe irgendeinen Namen genannt, der auf dem Klingelschild stand, und was von ›Schlüssel stecken lassen‹ gesagt. Beim vierten Versuch hat’s geklappt. Sind ja genügend Wohnungen.«
»Und dann?«
»… bin ich hoch, zu diesem offenen Fenster im Treppenhaus.«
»Vor dem Treppenhaus, nicht im Treppenhaus. Zwischen zwei Feuerschutztüren.«
»Na gut, dann also zu dem Fenster vor dem Treppenhaus. Auch wenn ich nicht weiß, warum das so wichtig ist.«
Es ist mir wichtig, weil mir solche winzigen Details zeigen, dass Claus die Wahrheit sagt. Dass ich ihm glauben kann. Warum versteht er das nicht? Doch ich sage nichts dazu.
»Und dann?«, frage ich.
Claus senkt den Kopf.
»Dann stand ich da und konnte es nicht. Konnte nicht. Konnte nicht. Ich hab’s einfach nicht geschafft. Ich kam mir so unendlich feige vor. Ich habe mich so sehr gehasst.«
Ich lege meine Hand auf seine.
»Ich bin froh, dass du es nicht geschafft hast.«
Er erwidert nichts darauf, und ich kann ihm nicht ins Gesicht sehen. Was geht gerade in ihm vor? Es dauert lange, bis er den Kopf hebt.
»Danke, dass du das gesagt hast, Kristin.«
»Dafür musst du nicht dankbar sein. Das ist es, was ich fühle.«
Wir schweigen wieder.
»Wie ging es weiter? Bist du wieder nach unten gefahren?«, frage ich schließlich.
»Nein. Ich stand da am Fenster und habe Thorsten angerufen. Er und Anna lagen schon im Bett. Es war ja schon spät, halb zwölf oder so.«
»Wie hat Thorsten reagiert?«
»Ich weiß es nicht mehr genau. Vieles habe ich nur noch verschwommen im Kopf. Der Alkohol, das Adrenalin … Soweit ich mich erinnere, hat er es erst nicht geglaubt.«
»Was hast du genau zu ihm gesagt?«
»Na ja, was sollte ich sagen? Dass Elke tot ist. Dass ich sie umgebracht habe. Und dass ich jetzt auf diesem Hochhaus stehe und kurz davor bin, runterzuspringen …«
Ein Hilferuf also. Ich versuche, mir die Situation vorzustellen.
Das Handy klingelt. Ach, sagt Thorsten zu Anna, es ist Claus – was will der denn so spät noch? Die beiden liegen schon im Bett, haben vielleicht gerade das Licht ausgeschaltet, sich einen Gutenachtkuss gegeben. Höchste Zeit, zu schlafen, morgen steht wieder ein langer Tag bevor. Thorsten überlegt kurz, ob er überhaupt reagieren soll oder einfach abwarten, bis die Mailbox anspringt. Erinnert sich dann aber mit schlechtem Gewissen daran, wie unglücklich sein Freund im Moment ist. Nun geh schon ran, sagt Anna in seine Gedanken, vielleicht braucht er deine Hilfe. Thorsten seufzt, nimmt das Handy vom Nachttisch, sagt, hey, Alter, was ist denn los? Lauscht und lauscht und lauscht und kann doch nicht begreifen, was ihm der Anrufer, einer seiner besten Freunde, da erzählt.
Elke ist tot. Ich habe sie umgebracht. Jetzt bringe ich mich um. Ich springe von diesem Hochhaus. Alles ist aus.
Bei einem Grillabend haben mir Thorsten und Anna einmal von dieser Nacht erzählt. Die beiden gehören zu den wenigen aus Claus’ einstmals großem Freundeskreis, die trotz allem zu ihm gehalten haben; nach seiner Verhaftung, die ganze Gerichtsverhandlung über, während der Zeit im Gefängnis und auch danach, bis heute. Sie haben ihm nach seinen Suizidversuchen in der Untersuchungshaft zugeredet, sein Leben nicht wegzuwerfen. Sie haben ihn mit ihrem neugeborenen Baby, der kleinen Marie, im Knast besucht; ihm Fotos von seinen Lieblingsplätzen in München, von seinen Lauf- und Fahrradstrecken und von den Bergen mitgebracht; haben mit ihm im Besucherraum Kuchen gegessen; haben ihn nach seiner Entlassung zu ihrer Hochzeit eingeladen und sich nicht um das Getuschel gekümmert. Heute spannen sie ihn wie selbstverständlich als Babysitter ihrer – inzwischen zwei – Kinder ein, nicht zuletzt deshalb, um ihm und allen anderen zu zeigen, dass
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