Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
immer das Gefühl habe, das alles passiere nicht wirklich, sondern sei nur ein besonders realistischer Film.
»Sie haben mir am Handy jedenfalls alle gesagt, dass Elke noch am Leben sei, um mich vom Springen abzuhalten. Selbst als sie längst wussten, dass es nicht stimmt«, erzählt mir Claus heute in meiner Wohnung am Küchentisch. Und sie haben ihm gesagt, dass er sich stellen muss, jetzt, gleich, sofort. Dass dies die einzige Möglichkeit sei. Dass sonst alles nur noch schlimmer werden würde.
Sie schafften es, Claus dazu zu bringen, nicht zu springen. Den Aufzug nach unten zu nehmen. Und sich zu stellen.
Claus fuhr zu der Polizeiwache, die ihm als erste in den Sinn kam – die ganz in der Nähe seiner Wohnung, gleich hier bei mir in Schwabing, ein paar Straßen weiter.
»Eine andere ist mir nicht eingefallen, da hätte ich erst mal recherchieren müssen, und dazu war ich nicht in der Lage. Mit Polizeidienststellen hatte ich bis dahin noch nie zu tun gehabt. Ich hätte dir nicht sagen können, wo man eine finden kann. Bis auf diese, aber die kannte ich auch nur, weil ich jeden Tag mit dem Auto daran vorbeigefahren bin auf dem Weg zur Arbeit.«
Genau wie ich selbst war Claus bisher erst zwei, drei Mal auf einer solchen Wache gewesen, um einen Diebstahl zu melden, das war Jahre her. Doch gerade die kleineren Polizeidienststellen ähneln sich alle, so wie sich auch Behörden überall in Deutschland irgendwie gleichen. Ich versuche, mir die Polizeiwachen in Erinnerung zu rufen, die ich bisher gesehen habe: Linoleumböden, gelblicher Ölfarbenanstrich an den Wänden, hinter einer Absperrung Holzschreibtische und Metallaktenschränke, viele noch aus den Sechzigern – einige der Möbel wären gerade total angesagt, wenn es sich um ein Szenecafé und nicht um eine Polizeiwache handeln würde. Überraschungsei-Figuren balancieren auf Computerbildschir men; Grünpflanzen mit fleischigen Blättern wuchern auf Fensterbrettern; an einer Pinnwand hängen ein paar vergilbte Urlaubspostkarten; eine altmodische Kaffee maschine, die noch nie von Latte macchiato gehört hat, gluckert vor sich hin; im Eingangsbereich kleben neben einer Holzbank zwei Fahndungsplakate.
»Wie hast du dich gefühlt, als du die Polizeiwache betreten hast?«
»Ich war mir bewusst, dass sich mit dem Betreten die ses Raums mein ganzes Leben mit einem Schlag än dern würde. Dass ich meine Freiheit verlieren würde. Ich wusste, wenn ich hier wieder hinausgehe, wird alles anders sein – auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt dachte, dass Elke noch am Leben sei.«
»Hast du gezögert? Oder daran gedacht abzuhauen?«
»Nein, nicht eine Sekunde. Ich fühlte mich nicht nur schuldig, sondern auch wie ein Totalversager. Ich hatte meine Freundin schwer verletzt – das hoffte ich zumindest, meine Freunde hatten mir ja geschworen, Elke sei nicht tot; ich war zu feige gewesen, um Selbstmord zu begehen; meine Freundin wollte sich endgültig von mir trennen, und jetzt, nach meinem Gewaltausbruch, gab es nicht die kleinste Hoffnung mehr für mich, dass wir wieder zueinanderfinden könnten. Für mich war mein Leben zu Ende. Und ich wollte die Konsequenzen tragen.«
»Hast du wirklich geglaubt, dass Elke noch am Leben ist?«
Claus stützt beide Ellbogen auf die Tischkante und verbirgt sein Gesicht hinter seinen Händen.
»Nein«, sagt er schließlich. »Und ja.«
»Nein und ja? Das verstehe ich nicht.«
»Nein, weil ich wusste, was ich getan hatte, weil ich wusste, wie ich sie zurückgelassen habe; und ja, weil ich es mir so sehr gewünscht, weil ich es so sehr gehofft habe und weil ich es glauben wollte. Ich wollte an ein Wunder glauben.«
»Aber tief in dir drin wusstest du, dass es nicht stimmt. Dass sie dich angelogen haben, um dich von dem Hochhaus herunterzulocken.«
»Ich glaube schon.«
»Und dann?«
»Auch daran kann ich mich nur verschwommen erinnern. Ich weiß, wie unglaubwürdig das klingt, aber viele Erinnerungen sind – irgendwie neblig und verschwommen, manche unvollständig.«
Ich weiß, was Claus meint, und ich finde es nicht unglaubwürdig, denn ich kenne dieses Gefühl. Auch ich hatte und habe viele Erinnerungslücken in der schlimmen Phase nach der Trennung von Oliver, als ich meinen Selbstmord vorbereitete. An manchen Tagen fehlen mir Stunden, in denen ich nicht mehr weiß, was ich getan habe. Einmal fand ich mich an einem Wochenende im Zug, auf dem Weg zu Sonja und Hannes nach Hamburg, die mir ihre Hilfe angeboten hatten – und ich
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