Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
einem kleinen Raum, von dem vier blaue Wohnungstüren abgehen. »Batman« lese ich auf einem der Klingelschilder. Ich muss grinsen, ich kann nicht anders. Hier hat Batman also seine Zweitwohnung, denke ich und stelle mir vor, wie Batman Claus hinterhergesprungen wäre, ihn gerettet und direkt danach mit dem Batmobil bei der Polizei abgeliefert hätte. Noch während ich diesen Gedanken nachhänge, schäme ich mich dafür. Sei nicht so streng mit dir, Kristin, sage ich zu mir, du darfst denken, was du willst. Hauptsache, du drehst nicht komplett durch.
Ich blicke mich nach einem Gang oder einer Tür um, die von hier wegführt, am besten nach oben aufs Dach oder auf eine Balustrade oder eine Feuerleiter oder was weiß ich. In Filmen flüchten sich Menschen andauernd auf Dächer und haben nie Probleme, dorthin zu gelangen. Ihre Probleme fangen immer erst dann an, wenn sie schließlich auf den Dächern stehen. Aber, liebe Kristin, das hier ist kein Film, ermahne ich mich wieder einmal, deshalb ist bestimmt alles abgesperrt, und das Einzige, was du zu sehen bekommst, ist Batmans Zweitwohnungstür in Himmelblau. Ich will gerade den Knopf drücken, um den Aufzug zurückzuholen, da erspähe ich eine Glastür hinter einem Vorsprung in der Wand. Die Tür zum Treppenhaus vielleicht – komme ich dort nach oben? Ich gehe darauf zu, drücke die Tür auf und kann nicht fassen, was ich da vor mir sehe. Ich stehe in einem Vorraum zum Treppenhaus – ein kleiner Gang zwischen zwei Feuerschutztüren. Direkt vor mir klafft eine Fensteröffnung, ein schwarzer Metallrahmen, jedoch ohne Glas, einfach ein offenes Loch in der Betonwand, ein schwarzes Plastik netz davorgespannt – es sieht aus wie ein Katzenschutznetz für Balkone. An zwei Stellen ist das Netz lose und flattert im kalten Wind. Es ist geradezu eine Einladung für jeden Lebensmüden und darüber hinaus lebensgefährlich für Kinder, die hier leben oder zu Besuch sind. Man braucht keinen Schlüssel, um hierherzugelangen. Es gibt keine Sicherungen oder Absperrungen, das schwarze Netz könnte selbst ein Dreijähriger entfernen. Hätte ich es nicht selbst gesehen, ich würde es nicht glauben.
Ich hebe das Netz an und beuge mich nach draußen. Vielleicht wäre der Blick atemberaubend, wenn das Wetter gut wäre, vielleicht kann man bei Föhn sogar die Berge sehen, aber im Moment ist es einfach nur nebeligdüstergrau. Man sieht die Einfamilienhaussiedlung, die Straße, die ich entlanggelaufen bin, Gärten und Grünflächen, eine Schrebergartenanlage, Bahnschienen, Regenschleier, Wolkenfetzen.
Es erscheint mir jetzt doch hoch, viel höher, als es von unten wirkte – den Effekt kennt jeder, der schon mal vom Zehnmeterbrett ins Schwimmbecken springen wollte. Ich habe eigentlich keine Höhenangst. Ich beuge mich über jede Brüstung, egal wie hoch, klettere für Recherchen zu einem Artikel auf Kräne, robbe mich für spektakuläre Ur laubsfotos an Klippen, balanciere zum Spaß auf Brückengeländern. Doch dieses Mal ist alles anders. Ich versuche, mir vorzustellen, wie es ist, hier mit Selbstmordgedanken zu stehen. Wie Claus nach unten geblickt und sich überlegt hat, dass er bei einem Sprung wahrscheinlich auf das gläserne Vordach über der Haustür knallen würde. Oder auf die Fahrradständer daneben. Er hatte bestimmt gehofft, auf den gepflasterten Fußweg zu fallen. Hatte er Angst davor, schwer verletzt zu überleben? Querschnittsgelähmt im Rollstuhl? Für jeden eine albtraumhafte Vorstellung, für Claus, den Bewegungssüchtigen, den Sportfanatiker, wahrscheinlich ganz besonders.
Ich hole mein iPhone aus der Manteltasche und google »Wie viele Stockwerke« und »für Selbstmord«. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich das nicht zum ersten Mal mache. Ich habe das schon mal für mich selbst recherchiert, an das Suchergebnis kann ich mich aber nicht mehr erinnern. Wie damals öffnen sich sofort seitenweise Suizidforen, bereits im zweiten wird genau diese Frage diskutiert. »Bei sechs Stockwerken besteht eine zehnprozentige Überlebenschance«, lese ich, »um hundertprozentig sicherzugehen, muss man ein Gebäude mit mindestens zehn Stockwerken auswählen«. Diese Information finde ich in mehreren Foren, eines davon nennt sich Gute Frage . Ob Claus das auch gelesen hat? Hat auch er recherchiert, bevor er sich dieses Hochhaus aussuchte?
Ich beuge mich noch einmal nach draußen, spüre den Sog der Tiefe, mir wird schwindelig. Ich hebe mein linkes Bein, schwinge es über das
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