Geliebter Schuft
»Und was fand ich dort?« Sie machte der dramatischen Wirkung wegen eine Pause und erreichte damit, dass ihr nun die Aufmerksamkeit aller in Hörweite Befindlichen galt.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Prudence.
»Ein Pamphlet dieser Organisation, dieses Frauenvereins, oder was weiß ich.«
»Sie meinen, die Women's Social and Political Union, kurz WSPU, Partei zur Förderung sozialer und politischer Belange der Frau«, erklärte Constance ruhig.
»Einerlei ... sie hatte es in einem Schubfach versteckt, obwohl sie weiß, das ich diesen skandalösen Unfug in meinem Haus nicht dulde. Wo kommen wir denn hin, wenn man nicht einmal der Gouvernante des eigenen Kindes trauen kann?«
»Ja, wohin?«, murmelte Constance. »Ihre Wachsamkeit ehrt Sie, Letitia. Das Recht auf Privatleben fällt dagegen nicht ins Gewicht.« Sie sah dabei Max Ensor an, und das Blitzen ihrer Augen hätte einem feinfühligen Mann zu denken geben müssen. »Teilen Sie die Ansicht Ihrer Schwester, Mr. Ensor?«
Der erneute Angriff hat nicht lange auf sich warten lassen, dachte er. Da er aber sehr daran interessiert war, wie viel von ihren eigenen Ansichten über die WSPU ihr zu entlocken war, entschied er sich, das warnende Aufblitzen ihrer Augen nicht zu beachten. »Darüber machte ich mir noch keine Gedanken«, sagte er, nicht ohne hinzuzufügen: »Natürlich ist die Forderung nicht ganz unlogisch, dass Frauen, die Steuern zahlen, auch das Stimmrecht haben sollen.« Er glaubte, einen erstaunten Ausdruck in ihrer Miene zu sehen, und beobachtete sie genau, während er mit einer wegwerfenden Handbewegung fortfuhr: »Es handelt sich um einen so kleinen Anteil der weiblichen Bevölkerung, dass es kaum der Rede wert ist.«
Er hatte gehofft, eine Reaktion zu provozieren, wurde aber enttäuscht. Constance wandte sich zur Seite, um nach der Teekanne zu greifen, die sie Martha anbot.
»Die Männer können sehr gut für uns wählen«, sagte Letitia. »Ich bin überzeugt, dass der liebe Bertie genau weiß, für wen er stimmen muss. Aber ich bin ratlos, was ich mit Miss Westcott machen soll... Pammy hängt sehr an ihr, und wir hatten schon so große Schwierigkeiten mit Gouvernanten. Meist kam Pammy gar nicht gut mit ihnen aus.«
»Ich bezweifle, dass Miss Westcotts politische Ansichten für eine Sechsjährige von Belang sind«, meinte Prudence.
»Ach, Sie würden sich wundern, Prudence, mit welchen Tricks diese Frauenzimmer die Kleinen zu verderben suchen«, sagte Lady Bainbrigde mit unheilvollem Nicken.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll«, seufzte Letitia. »Ich kann sie nicht darauf ansprechen, da sie dann wissen würde, dass ich ihr Zimmer durchsuchte.« Letitias Schmollmund hätte eher zu ihrem Töchterchen gepasst, fand Constance.
»Ja, das ist ärgerlich«, murmelte sie und bemerkte Chastitys empörte Miene. Für Chastity waren Schnüffelei und Bespitzelung fast so arg wie Diebstahl und Mord.
»Denken Sie sich: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, riet Chastity. »Ihnen wäre viel wohler zumute, wenn Sie von Miss Westcotts politischen Interessen keine Ahnung hätten.«
»Ich muss an das Wohl meiner Tochter denken«, erwiderte Letitia ein wenig steif und setzte die Teetasse ab. »So, und jetzt verabschiede ich mich. Ich versprach Pammy einen Besuch bei Großtante Cecily.« Sie erhob sich. »Max, du brauchst mich nicht zu begleiten, wenn du noch bleiben möchtest. Johnson wartet draußen mit dem Wagen. Er kann mich nach Hause bringen.«
Max überlegte kaum eine Sekunde. Er war gekommen, um Constance Duncan zu sehen und die Lage ein wenig auszuloten. Nachdem er sich von der ersten, aus dem Hinterhalt erfolgten Attacke erholt hatte, war die Sache amüsant verlaufen und hatte ihm etliche Einblicke gewährt, doch er spürte, dass heute nichts mehr zu gewinnen war. Es war Zeit, den Rückzug anzutreten und sich neu zu formieren.
»Meine liebe Letitia, ich brachte dich hierher und werde dich auch nach Hause begleiten«, sagte er mit glattem Lächeln. »Miss Duncan ... meine Damen ...« Er verbeugte sich nacheinander vor den Schwestern. »Ein reizender Nachmittag.«
Constance reichte ihm die Hand. »Ich fürchtete schon, Sie würden sich langweilen, Mr. Ensor. Es freut mich, dass ich mich irrte.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich diesen unglücklichen Eindruck hervorrufen konnte«, gab er zurück. Seine Hand umschloss ihre und übte leichten, aber entschiedenen Druck aus. Falls sie es bemerkte, ließ sie es
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