Geliebter Schuft
die Treppe in würdigerer Haltung hinunter. Sie streckte ihre Hand der fest korsettierten Witwe in der Eingangshalle entgegen und begrüßte die zwei jüngeren Frauen in deren Begleitung. Die beiden trugen getupfte Schleier, die sie als Reaktion auf Constances Gruß anhoben. Zwei identische helle Augenpaare senkten sich züchtig zu den Säumen der steifen Bombasinkleider, deren Oberteile eine ähnlich feste Schnürung vermuten ließen wie jene ihrer Mutter.
Lady Bainbridge hob ihr Lorgnon an die Nase und unterwarf Constance einer kritischen Betrachtung. »Du scheinst etwas gerötet zu sein«, erklärte sie. »Ich hoffe sehr, im Haus gibt es kein Fieber.«
»Der Nachmittag war sehr warm«, sagte Constance, die ihr Lächeln nur mit Mühe beibehielt. Die Dame, eine entfernte Cousine Lady Duncans, war mit ihrer ständigen beißenden Kritik eine richtige Nervensäge. Ihre bleichen und verhärmten Zwillingstöchter sahen aus, als müssten sie in ständiger Dunkelheit leben und kämen kaum ans Tageslicht, da ihre Mama der Meinung war, Sonne schade dem Teint.
Lady Bainbridge schnüffelte hörbar und segelte vor Constance in den Salon, wo sie Prudence und Chastity mit ähnlich kritischem Blick musterte, eindeutig darauf aus, einen Makel zu entdecken. Offensichtlich fand sie an den freundlichen Mienen und der korrekten Nachmittagskleidung nichts auszusetzen, da sie wieder hörbar schniefte und den Kopf steif neigte, ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf den Salon richtete.
»Constance, du hast den Raum sträflich vernachlässigt«, erklärte sie. »Deine Mutter war immer so stolz auf ihr Haus.«
Da die Schwestern sich noch gut an Gardinenpredigten zu Lebzeiten ihrer Mutter erinnern konnten, bei denen es um die Anwendung von Bienenwachs und Silberpolitur ging, ließen sie diese Bemerkung ohne Kommentar über sich ergehen. Lady Bainbridge sank auf das Sofa, runzelte sofort die Stirn und zupfte an einer Stelle der Armlehne, wo sich ein fast unsichtbarer Kaffeefleck befand, wie Prudence bemerkte.
»Setzt euch, Mädchen. Setzt euch endlich und steht nicht herum wie Trauerweiden.« Ihre Ladyschaft schwenkte den Fächer, woraufhin Mary und Martha sich gehorsam am Rand des Sofas gegenüber niederließen.
»Tee, Lady Bainbridge?« Chastity brachte ihrem Gast eine Tasse, während Jenkins die Platte mit den Sandwiches anbot.
Ein Blick auf das Angebot, und Ihre Ladyschaft winkte ab. Den Tee freilich genehmigte sie. Auch ihre Töchter, die ihre Tassen auf dem Schoß hielten, lehnten pflichtschuldigst die Sandwiches ab.
»Also, was ist mit dem Gerede über Letitia Grahams Bruder, der jetzt in London ist?«, wollte Lady Bainbridge wissen. »Ich war letztes Mal nicht auf Arabella Beekmans Soiree, doch hörte ich, dass er da war und für Aufsehen sorgte.«
»Wir sprachen kurz mit ihm«, sagte Chastity. »Nur ein Austausch von Höflichkeiten. Mir muss entgangen sein, dass er Aufsehen erregte ... oder, Con?«
»Ach«, erwiderte Constance mit feinem Stirnrunzeln, »meiner Erinnerung nach war er völlig unauffällig, Madam.«
»Ich las es anders«, erklärte Ihre Ladyschaft und trank einen Schluck Tee.
»Ach? Wurde über ihn geschrieben?« Prudence beugte sich vor. Ihre lebhaften grünen Augen wirkten hinter den Brillengläsern riesengroß.
»Haben Sie einen Brief bekommen, Lady Bainbridge?« Chastity, deren Augen im Gegensatz zum Grün der ihrer Schwestern eher einen Stich ins Braune hatten, richtete diese mit hingerissener Aufmerksamkeit auf ihre Besucherin.
»Ach, Mama fand eine Ausgabe dieser Zeitung«, flüsterte Mary. »Ausgerechnet in der Damengarderobe von Swan and Edgar.«
»Das reicht Mary«, verkündete Lady Bainbridge. »Was du immer daher schwatzt .«
Die drei Duncan-Schwestern wechselten einen Blick. Mary sprach so selten, dass der Klang ihrer Stimme ihnen neu war.
»Welche Zeitung?«, erkundigte Prudence sich mit Unschuldslächeln.
»Ach, die müsste Ihnen schon untergekommen sein. Ein Schmierblättchen.« Lady Bainbridge stellte ihre Tasse auf das kleine Tischchen neben sich. »Es heißt The Mayfair Lady. Der Name könnte gar nicht unzutreffender sein. Es ist nichts Damenhaftes an der Zeitung.«
»Lady Letitia Graham und der Sehr Ehrenwerte Mr. Ensor, Miss Duncan.«
Jenkins' Stimme, die von der Tür her zu hören war, schreckte sie alle auf. Niemand hatte die Türklingel gehört.
»Ach, Lady Bainbridge, Sie haben ja so Recht«, flötete Letitia, die in einer Lavendelwasserwolke und unter Seiden-und Spitzengeraschel
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