Geliebter Schuft
Als die Kellnerin die Bestellung brachte, verstummte das Gespräch. Nachdem sie sich wieder entfernt hatte, der Tee in die schweren Tassen gegossen und das Backwerk herumgereicht worden war, nahm Prudence ihre Brille ab, rieb sie mit dem Taschentuch blank und setzte sie wieder sorgsam auf.
»Eine Kartei hoffen wir mit der Zeit zusammenzustellen, Miss Westcott«, kam sie auf Miss Westcotts Frage zurück. »Im Moment aber haben wir eigentlich noch keine.« Sie zwinkerte hinter ihren Gläsern . »Sie sind nämlich unsere erste Kundin.«
»Ach so.« Amelia sah so verwirrt aus, wie ihr zumute war. »Wie ... ist das möglich?«
»Nun, eine muss die Erste sein«, gab Chastity zu bedenken und tat Zucker in ihren Tee.
»Ja. Wir ... besser gesagt The May fair Lady bietet diese Kontakte ja erst seit kurzem an«, erklärte Constance und schnitt einen Fladen in exakt vier Teile. »Aber ich bin sicher, dass wir Ihnen helfen können. Sie erwähnten Ihre heikle Situation. Wenn Sie uns etwas von sich und Ihrer Lage erzählen, wäre der Anfang gemacht.«
Amelia sah die drei Schwestern zweifelnd an. Sie hatte sich endlich durchgerungen, ihre bedrängte Lage mit sachlich und effizient wirkenden Mitarbeitern einer Kontakt-Agentur zu erörtern. Keinesfalls hatte sie erwartet, sich zum Tee mit drei feinen Damen zu treffen und die Sache im Plauderton abzuhandeln.
Constance spürte ihr Zaudern. »Miss Westcott, wir haben eine leise Ahnung von Ihrer Lage. Es kann nicht angenehm sein, für Lady Graham zu arbeiten.«
Amelia errötete. »Wie können Sie nur ...«
»Eine peinliche Situation«, sagte Prudence. »Wir sind mit
Letitia bekannt und entdeckten durch einen Zufall, dass ihre Tochter eine Gouvernante namens Westcott hat.« Sie hob die Schultern abwehrend hoch. »In unserer Position ist das unvermeidlich.« Wieder zuckte sie mit den Schultern.
Amelia griff nach ihren Handschuhen. »Ich wüsste nicht, wie Sie mir helfen können. Ich war davon ausgegangen, dass es sich um ein geschäftliches Treffen handelt, und kann mich doch nicht mit Leuten aussprechen, die mein Vertrauen womöglich missbrauchen.« Ihre Hände zitterten, als sie mit ihren geknöpften Handschuhen kämpfte.
Nun trat Schweigen ein, dann beugte Chastity sich vor und legte eine Hand auf Amelias bebende Finger. »Hören Sie zu, Amelia. Niemals würden wir Ihr Vertrauen missbrauchen. Wir haben uns zu absoluter Diskretion verpflichtet. Was wir von Letitia wissen, macht uns umso entschlossener, Ihnen zu helfen. Sie brauchen einen Mann, damit sie dem Dienstverhältnis entkommen. Ist es so?«
Ihr Ton war so aufrichtig und mitfühlend, dass Amelia wieder einen Anflug von Hoffnung spürte. Sie sah die drei Frauen an und las Mitleid in ihren Blicken. Mitleid, aber auch Kraft und Entschlossenheit, was ihr Vertrauen einflößte.
Amelia fasste einen Entschluss. Was hatte sie denn zu verlieren ?
»So einfach ist es nicht«, sagte sie und errötete tief. »Wenn es so wäre, würde ich mir eine andere Stelle suchen.«
Die drei waren ganz Ohr. Der Tee wurde kalt, Butter floss von den Fladen. »Vor zwei Monaten war ich mit Pamela auf dem Land. Lord und Lady Graham wollten, dass die Kleine den Sommer in Kent in ihrem Sommerhaus verbringt.«
Die drei Schwestern nickten. Amelia spielte mit dem Löffel, den Blick auf das weiße Tischtuch gerichtet. »Es sollte in den Ferien keinen Unterricht geben, doch waren lehrreiche Spaziergänge sowie Reitstunden vorgesehen ...« Sie hielt inne, die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. »Und ich sollte ihre Musikstunden überwachen. Pamela übt nur sehr ungern auf dem Klavier. Sie zeigt leider in allen Fächern wenig Ausdauer.«
»Ihre Mutter hält wohl nichts von Mädchenbildung«, sagte Constance.
Amelia lachte kurz auf. »Allerdings. Man kann es Lady-Graham nicht verargen, da sie selbst in diesem Punkt nicht viel aufzuweisen hat. Ich glaube sogar, dass sie Bildung bei einer Frau für nachteilig hält.«
»Das trifft sicher zu«, sagte Prudence und schob ihre Brille mit dem Zeigefinger auf dem Nasenrücken höher. Sie sah Amelia Westcott gewitzt an. »Der Musiklehrer ...«, gab sie das Stichwort.
Amelia holte tief Luft. »Henry Franklin«, sagte sie ausatmend. »Jüngster Sohn Richter Franklins, Friedensrichter und Besitzer einer Ziegelei. Sein Vater billigt den Musikerberuf nicht und verlangt, dass er in der Firmenbuchhaltung arbeitet wie seine beiden Brüder.«
»Und Henry will davon nichts wissen.« Chastity nahm ein
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