Geliebter Schuft
Wagen hielt an. »Manchester Square, die Herrschaften.« Der laute Ruf des Kutschers durchbrach die Stille, und sie trennten sich. Constance fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Lippen und strich ihr Haar glatt. »Danke für den reizenden Abend, Max.«
»Das Vergnügen war ganz meinerseits, Constance.« Seine Zähne schimmerten weiß, als er ihren förmlichen Abschiedsgruß und das höfliche Lächeln erwiderte. Er stieg aus und reichte ihr die Hand, um ihr zu helfen. Dann begleitete er sie die Stufen hinauf, zog am Klingelstrang und hob ihre Hand an die Lippen. »A bientöt.«
»Freitagmittag an der Waterloo Station«, erwiderte sie.
»Ich freue mich schon.«
Constance hob grüßend die Hand und drehte sich um, als Jenkins ihr die Tür öffnete. »Sie verbrachten einen angenehmen Abend, Miss?«, erkundigte er sich.
»Da bin ich nicht ganz sicher«, erwiderte sie. »Sind meine Schwestern schon zu Bett gegangen?«
»Das glaube ich nicht, Miss Con«, sagte Jenkins mit wissendem Lächeln. »Sie befinden sich oben im Salon.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.« Constance winkte ihm zu und lief, ihr Kleid raffend, die Treppe hinauf. Sie konnte ihren Schwestern nicht ausweichen, die gespannt auf ihre Rückkehr warteten, und sie wollte es auch nicht, doch sie war unsicher, wie viel sie von der Rückfahrt verraten sollte. Sie hatte ihm eigentlich einen leichten und spielerischen Kuss geben wollender ihn nur reizen sollte. Aber irgendwie war es anders gekommen. Ganz anders. Sie öffnete die Tür zum Salon.
Prue und Chastity, die in eine Backgammon-Partie vertieft waren, sprangen bei ihrem Eintreten auf. »Los, erzähl schon«, drängte Chastity. »Habt ihr euch den ganzen Abend gezankt oder wurde es wundervoll romantisch?«
»Du bist unmöglich, Chas.« Constance streifte ihre Handschuhe ab. »Wie es nun einmal so geht: Wir zankten uns fast ununterbrochen, und der einzig romantische Moment war, als er mir in der Droschke einen Gutenachtkuss gab.«
»Einen guten Kuss?«, fragte Prudence mit hochgezogenen Brauen.
»Das zu beurteilen, bemühe ich mich eben.« Constance warf sich wenig elegant in die Tiefen des Chesterfield-Sofas und entledigte sich ihrer Schuhe, von ihren Schwestern mit der ungeteilten Aufmerksamkeit von Löwinnen in Erwartung der Fütterung beobachtet.
»Auf einer Bewertungsskala von eins bis zehn«, drängte Prudence. Constance tat so, als würde sie überlegen. Sie streckte die Hände aus und begutachtete ihre Nägel. »Kühn«, sagte sie nachdenklich, »kraftvoll... warm ... Lippen und Zunge sehr schmiegsam ... Da ich glaube, dass man eine Zehn nicht vergeben kann, da man ja nie weiß, was man noch alles erleben könnte, würde ich acht sagen.«
»Ganz schön hoch«, meinte Prudence.
»Für einen ersten Kuss klingt das ziemlich ungestüm«, bemerkte Chastity und machte sich daran, das Backgammon— Spiel wegzuräumen.
»Das war er wohl«, pflichtete Constance ihr bei. »Aber das geht nicht allein auf sein Konto.«
»Ach, wirklich?« Ihr Schwestern sahen sie eindringlich an. Dann fragte Chastity sie unverblümt: »War es mit Douglas vergleichbar?«
Constance ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Es ist schlimm, aber ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie es mit Douglas war. Mir fällt es schon schwer genug, mir seine Züge deutlich zu vergegenwärtigen. Aber wenn ich daran denke, dass er unter einem Erdhügel in Südafrika begraben liegt, empfinde ich es als eine so große Ungerechtigkeit, dass ich mir am liebsten die Haare raufen und laut schreien und klagen möchte.« Sie starrte blicklos auf den Teppich hinunter. »Natürlich bin ich darüber hinweg, doch ich habe es nicht eilig, die Erinnerung an ihn mit einer neuen Leidenschaft zu Grabe zu tragen.«
»Max Ensor geht dir also nicht unter die Haut«, stellte Prudence fest.
»Nein«, erklärte Constance mit Entschiedenheit. »Aber seine geradezu vorsintflutlichen Ansichten tun es. Die Vorstellung, ihn richtig zu bearbeiten, sagt mir jedoch sehr zu.« Als sie aufblickte, war ihre Miene wieder entspannter, und die Schatten aus ihren Augen waren verschwunden. »Ich beabsichtige, Max Ensor radikal umzukrempeln, und noch ehe ich damit fertig bin, wird er die Fahne der WSPU schwingen.«
»Und er hat sich definitiv entschieden, übers Wochenende nach Romsey zu kommen?«
Constance nickte. »Ja. Er trifft sich mit uns am Bahnhof.«
»Und du hast bereits Pläne für ihn?«
»Im
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