Geliebter Tyrann
Doch ich nahm mir keine davon. Nein, ich wollte sie nicht stehlen. Ich bin kein Dieb.«
»Also hungerten Sie lieber, um ihm zu beweisen, daß Sie keine Diebin wären.«
»Um es auch mir zu beweisen. Ich zähle schließlich auch noch.«
Clay sagte nichts. Er trug sie durch den Flur bis zu einer Tür, die er öffnete. Die Küche lag in einem Gebäude, das vom Haus getrennt war. Dort trug er sie hin.
Nicole hob den Kopf an Clays Schulter und schnüffelte. »Was ist das für ein Geruch?«
»Geißblatt«, antwortete er knapp.
»Ich möchte das haben«, forderte sie. »Würden Sie mich bitte dorthin tragen, daß ich mir etwas davon nehmen kann?«
Er schluckte eine ärgerliche Bemerkung hinunter, trug sie aber hin.
Da war eine sechs Fuß hohe Ziegelmauer, die mit duftendem Geißblatt bedeckt war, und Nicole riß sechs Zweige herunter. Clay sagte, das sei genug, und trug sie weiter zur Küchentür. ln der Küche setzte er sie auf einen großen Tisch, der in der Mitte des gewaltigen Raumes stand, als wäre sie ein kleines Kind, und warf dann Holz auf die Glut, die im Ofen noch unter der Asche glomm. Nicole spielte mit den Geißblattzweigen in ihrem Schoß.
Als Clay von dem aufflackernden Feuer zu ihr sah, bemerkte er, daß ihr Kleid schmutzig und zerrissen war und ihre bloßen Füße an mehreren Stellen bluteten. Ihr langes Haar hing ihr über den Rücken hinab, und das Feuer setzte dem raben-schwarzen Geflecht rote Reflexe auf. Sie sah so zierlich aus wie eine Zwölfjährige. Während er sie betrachtete, entdeckte er einen dunkleren Fleck auf dem hellen Stoff.
»Was haben Sie sich da getan?« fragte er barsch. »Das sieht wie Blut aus.«
Erschrocken sah sie zu ihm hoch, als hätte sie seine Anwesenheit vollkommen vergessen. »Ich bin gestürzt«, sagte sie schlicht, ihn im Auge behaltend. »Sie sind Mr. Armstrong, nicht wahr? Ich würde Sie immer an diesem bösen Blick erkennen. Sagen Sie, lächeln Sie manchmal auch?«
»Nur, wenn es etwas zu lächeln gibt, was im Augenblick nicht der Fall ist«, erwiderte er, hob ihr linkes Bein an und stemmte dessen Ferse auf seinen Gürtel. Dann raffte er ihren Rock zurück, bis ihr Schenkel entblößt war.
»Bin ich wirklich so eine Last, Mr. Armstrong?«
»Sie haben nicht gerade zu meinem Seelenfrieden beigetragen«, entgegnete er, während er behutsam das blutige Stück Leinen von dem Schnitt entfernte. »Entschuldigung«, sagte er, als sie zusammenzuckte und nach seiner Schulter faßte. Es war ein häßlicher, schmutziger Schnitt; aber nicht tief. Wenn er gut ausgewaschen wurde, überlegte er, würde er ohne Narbe verheilen. Er drehte sie herum, bis ihr Bein ausgestreckt auf dem Tisch lag, und ging zum Herd, um Wasser warm zu machen.
»Janie erzählte mir, Ihnen würde die Hälfte der Frauen von Virginia nachrennen. Ist das wahr?«
»Janie redet zuviel«, entgegnete er. »Ich denke, Sie sollten jetzt lieber etwas futtern. Sie wissen doch, daß Sie betrunken sind, nicht wahr?«
»Ich war in m<<, erwiderte sie mit so viel Würde, wie sie aufzubringen vermochte.
»Hier, essen Sie das«, befahl er und schob ihr eine dicke Scheibe Brot zu, die mit frischer Butter dick bestrichen war.
Nicole konzentrierte sich sofort auf das Essen.
Nachdem Clay eine Schüssel mit warmem Wasser gefüllt hatte, nahm er ein Tuch und begann den Schnitt an ihrem Schenkel auszuwaschen. Er war über sie gebeugt, als die Tür aufging.
»Mr. Clay, wo sind Sie die ganze Nacht gewesen, und was machen Sie jetzt in meiner Küche? Sie wissen doch, daß ich so etwas gar nicht schätze.«
Das letzte, was Clay nun gebrauchen konnte, war die Gardinenpredigt von einer Frau, die für ihn arbeitete. Die Ohren klingelten ihm noch von Janies Tirade. Sie hatte ihn eine geschlagene Stunde lang angeschrien, weil er Bianca einen Brief mit langen Erklärungen geschrieben und der Fregatte mitgegeben hatte, die den Hafen verließ, während Nicole in den Wäldern herumirrte.
»Maggie, das ist meine... Frau.« Es war das erstemal, daß er dieses Wort benützte.
»Oh«, erwiderte Maggie grinsend. »Ist es die Frau, die Ihnen davonlief, wie Janie mir erzählte?«
»Gehen Sie wieder ins Bett, Maggie«, sagte Clay mit einer für ihn ungewohnten Geduld.
Nicole drehte den Kopf zur Seite und blickte die große Frau an. »Bonjour, madame«, sagte sie und hob das Stück Brot wie zu einem Salut.
»Spricht sie denn kein Englisch?« fragte Maggie mit Flüsterstimme.
»Nein«, sagte Nicole und drehte Maggie wieder den
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