Geliebter Tyrann
waren stark, und als sie ihren Kopf an seine Brust legte, war sie froh, wieder einem menschlichen Wesen nahe zu sein. Die Ereignisse der letzten Stunden gingen ihr im Kopf herum. Sie schien in einem Fluß zu schwimmen, und um sie herum waren lauter rote Schuhe. Sie phantasierte von diesen Schuhen, die Augen hatten und sie anfauchten.
»Still! Sie sind in Sicherheit. Die Schuhe oder die Wölfe können Ihnen nichts anhaben. Ich bin bei Ihnen, und bei mir sind Sie sicher.«
Selbst in ihrem Schlaf hörte sie ihn und entspannte sich, als sie seine Hand auf ihrem Arm spürte. Er rieb ihre Haut warm, und das tat ihr gut.
Als er sein Pferd zügelte, öffnete sie die Augen und sah zu dem großen Haus hinauf, das über ihr aufragte. Er stieg vom Pferd und hielt die Arme für sie hoch. Nicole, ein wenig gekräftigt von ihrem Schlaf, versuchte, ihre Würde zurückzugewinnen. »Vielen Dank, aber ich brauche keine Hilfe«, sagte sie stolz und begann vom Pferd zu steigen. Doch ihr entkräfteter Körper, strafte sie Lügen, und sie fiel ziemlich hart gegen ihn. Für einen Moment bekam sie keine Luft mehr. Clay bückte sich nur und hob sie auf seine Arme.
»Sie sind so widerspenstig wie sechs Frauen auf einmal«, sagte er, während er mit ihr zur Haustür ging.
Sie schloß die Augen und lehnte sich wieder an ihn. Sie konnte den regelmäßigen kräftigen Schlag seines Herzens spüren.
Im Haus setzte er sie in einen großen Ledersessel, zog seinen Mantel enger um sie und schenkte ihr dann ein Glas Brandy ein. »Ich möchte, daß Sie hier sitzen bleiben und das trinken. Haben Sie gehört? Ich komme in ein paar Minuten zurück. Ich muß mich um mein Pferd kümmern. Wenn Sie sich inzwischen von der Stelle bewegen, werde ich Sie anschließend übers Knie legen. Ist ihnen das klar?«
Sie nickte, und schon war er wieder aus dem Zimmer. Sie konnte keine Einzelheiten in diesem Raum erkennen - dafür war es zu dunkel; aber sie vermutete, daß sie sich in einer
Bibliothek befand, weil sie den Geruch von Leder, Tabak und Pergament einatmete. Es war eindeutig das Zimmer eines Mannes. Sie betrachtete das Brandyglas in ihrer Hand und sah, daß es fast bis zum Rand gefüllt war. Sie nippte daran. Köstlich! Es war schon so lange her, daß sie etwas Genießbares auf der Zunge schmeckte. Als der erste Schluck des Brandys sie zu wärmen begann, nahm sie einen kräftigeren Zug. Sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr im Magen, und der Brandy stieg ihr sofort zu Kopf. Als Clay zurückkam, grinste sie wie ein Kobold. Sie hielt den Kristallschwenker lose zwischen den Fingerspitzen.
»Alles weg«, sagte sie. »Bis auf den letzten Tropfen.« Sie lallte zwar nicht wie ein Betrunkener; doch ihre Worte hatten einen schweren Akzent.
Clay nahm ihr das Glas fort. »Wie lange ist es her, daß Sie zum letztenmal gegessen haben?«
»Tage«, sagte sie, »Wochen, Jahre, eine Ewigkeit.«
»Eine schöne Bescherung«, murmelte er. »Es ist zwei Uhr morgens, und ich habe eine betrunkene Frau am Hals. Kommen Sie, stehen Sie auf, und wir werden etwas Eßbares suchen.« Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Beine.
Nicole lächelte ihn an; doch ihr verletztes Bein wollte sie nicht tragen. Als sie wieder gegen ihn fiel, lächelte sie entschuldigend. »Ich habe mir das Bein verletzt«, sagte sie.
Er bückte sich, um sie wieder auf die Arme zu nehmen. »Waren die roten Schuhe oder die Wölfe daran schuld?« fragte er sarkastisch.
Sie rieb ihre Wange an seinem Hals und kicherte. »Waren es wirklich Hunde? Haben die roten Schuhe mich wirklich verfolgt?«
»Es waren tatsächlich Hunde, und die Schuhe haben Sie nur geträumt. Doch Sie reden im Schlaf. Nun seien Sie still, oder Sie wecken das ganze Haus auf.«
Sie fühlte sich so köstlich leicht im Kopf, als sie sich näher zu ihm beugte und ihre Arme um seinen Hals legte. Ihre Lippen waren dicht an seinem Ohr, als sie zu flüstern versuchte: »Sind Sie wirklich dieser schreckliche Mr. Armstrong? Sie scheinen ihm so gar nicht ähnlich zu sein. Sie sind mein Ritter, mein
Lebensretter, also können Sie gar nicht dieser schreckliche Mensch sein.«
»Sie halten ihn wirklich für so schrecklich?«
»Oh ja«, sagte sie fest. »Er sagte, ich wäre ein Dieb. Er sagte, ich stehle Kleider, die für jemand anders bestimmt waren. Und er hatte recht! Das tat ich. Aber ich zeigte es ihm.«
»Wie haben Sie es ihm denn gezeigt?« erkundigte sich Clay ruhig.
»Ich war sehr hungrig, und ich sah ein paar Äpfel in einem Obstgarten.
Weitere Kostenlose Bücher