Geliebter Tyrann
Gedächtnis. Es war die Wohnstätte wilder, mörderischer Indianer; die Heimat fremdartiger Bestien, die die Menschen und deren Eigentum verschlangen.
Ihre Schritte waren das einzige Geräusch auf dem Waldboden; doch es schien noch viele andere Wesen hier zu geben -Wesen, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelten, quiekendes und stöhnendes Getier, etwas Plumpes, das sich an sie heranpirschte.
Sie ging stundenlang so fort. Nach einer Weile begann sie vor sich hinzusummen, ein kleines französisches Lied, das ihr Großvater sie gelehrt hatte; doch bald mußte sie einsehen, daß ihre Beine sie nicht weitertragen würden, falls sie keine Rast einlegte. Aber wo? Sie folgte einem schmalen Pfad, der jedoch genauso endete, wie er begann - in einer schwarzen Leere.
»Nicole«, flüsterte sie sich zu, »du hast nichts zu befürchten. Der Wald ist nachts genauso wie bei Tageslicht.«
Dieser tapfere Zuspruch half ihr nicht viel; doch sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und setzte sich unter einen Baum. Sogleich spürte sie, wie das feuchte Moos ihr Kleid durchnäßte.
Doch sie war zu erschöpft, um sich daran zu stören. Sie zog die Knie bis unter das Kinn, bettete die Wange auf den rechten Arm und schlief sofort ein.
Als sie am Morgen erwachte, blickte sie in zwei große Augen, die sie anstarrten. Mit einem Keuchen setzte sie sich rasch auf und verscheuchte das neugierige kleine Kaninchen, das sie beobachtet hatte. Sie lachte über ihre törichten Ängste und schaute sich um.
Im frühen Morgenlicht, das durch das Blattwerk filterte, sah der Wald freundlich und einladend aus. Aber als sie sich den steifen Nacken rieb und versuchte, aufzustehen, merkte sie, daß ihr ganzer Körper wund war, daß ihr Kleid feucht auf ihrer Haut klebte und ihre Arme eiskalt waren. Sie hatte in der Nacht nicht einmal gemerkt, daß sich ihre Haare aus den Spangen lösten und nun wirr und naß um ihren Hals hingen. Hastig versuchte sie mit den Haarnadeln, die sie noch fand, etwas Ordnung in ihre Haare zu bringen.
Die paar Stunden Schlaf hatten sie gekräftigt, und mit neuer Energie schritt sie nun auf dem schmalen Pfad aus. ln der Nacht war sie unsicher geworden, doch im Licht des Morgens wußte sie, daß ihr Entschluß richtig gewesen war. Sie hätte mit Mr. Armstrongs Vorwürfen nicht leben können, und nun würde sie ihn entschädigen und ihren Stolz zurückgewinnen.
Als die Sonne höher stieg, setzte ihr der Hunger zu. Janie und sie hatten in den letzten beiden Tagen, ehe sie die amerikanische Küste erreichten, sehr wenig gegessen, und das Grummeln in ihrem Magen erinnerte sie daran.
Am Mittag erreichte sie einen Zaun, der einen Obstgarten mit Hunderten von Apfelbäumen schützte. Die Äpfel in der Nähe des Zauns waren noch grün, doch in der Mitte des Gartens sah sie Bäume mit roten reifen Früchten. Nicole war schon halb über den Zaun, als ihr Clayton Armstrongs Stimme wieder in den Ohren klang, die sie des Diebstahls beschuldigte. Was war nur über sie gekommen, seit sie in Amerika weilte? Sie verwandelte sich in einen Dieb, in eine durch und durch unehrenhafte Person.
Sie kletterte widerstrebend wieder vom Zaun herunter.
Obwohl sie nun ein gutes Gewissen hatte, rebellierte ihr Magen schlimmer als zuvor.
Dann, als die Sonne im Zenit stand, erreichte sie einen Bach mit steilen Ufern. Sie wurde sich schmerzlich ihrer wunden Füße und Beine bewußt. Ihr war, als wäre sie tagelang gewandert und trotzdem der Zivilisation keinen Schritt näher gekommen. Der Zaun war das einzige Zeichen gewesen, daß schon vor ihr ein Mensch dieses Land betreten hatte.
Vorsichtig ging sie an der Uferböschung entlang, setzte sich auf einen Fels, löste die Spangen ihrer Schuhe und kühlte dann ihre Füße im Wasser. Sie waren mit Blasen bedeckt, und das Wasser tat ihnen gut.
Ein Tier rannte hinter ihr aus den Büschen auf den Bach zu. Erschrocken sprang Nicole auf und drehte sich rasch um. Der kleine Waschbär war genauso erschrocken wie sie, als er sie erblickte. Sofort machte er wieder kehrt und rannte in den Wald zurück, während Nicole über sich selbst lachen mußte, weil sie gar so schreckhaft war.
Als sie sich umwandte, um ihre Schuhe aufzusammeln, sah sie sie gerade noch um eine Biegung des Baches verschwinden. Die Röcke über dem Arm, watete sie den Schuhen nach; doch der Bach hatte eine reißende Strömung und war viel tiefer, als sie angenommen hatte. Sie war kaum zehn Schritte weit gegangen, als sie ausglitt und etwas
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