Geliebtes Monster
ich mußte leider schon laut genug sprechen. Sie haben Nachbarn, die…«
»Aber ich bin nicht angezogen.«
Der Mann lächelte. »Keine Sorge, ich werde Ihnen schon nicht zu nahe treten.«
Tabea nickte. Sie stand zudem noch stark unter dem Einfluß dieser schrecklichen Neuigkeit, und so dachte sie nicht mehr an die Vorsichtsregeln. Sie löste die Kette und ließ den Mann eintreten, der sich noch die Schuhe auf der Fußmatte abputzte. Ihr fiel nur auf, daß er die Hände in den Jackentaschen ließ.
Hinter ihm schloß sie die Tür. »Sie können in meinem Wohnzimmer warten, Mister.«
»Sehr gern.«
»Bei mir dauert es nur wenige Minuten.« Tabea öffnete die Tür zum Wohnzimmer, das mehr der Arbeitsstelle eines D.J.s glich, denn in den Regalen standen Hunderte von CDs.
»Nehmen Sie solange Platz.« Tabea deutete auf die beiden dunklen Sessel. »Ich bin gleich fertig.«
»Danke, gern.«
Kopfschüttelnd ging die junge Frau zurück in das Schlafzimmer, in dem sie sich normalerweise auch ankleidete. Noch immer kam sie sich vor, als würde sie neben sich hergehen. Jedes Aufsetzen des Fußes lief nicht mehr normal ab. Sie ging nicht über einen üblichen Boden, sondern über einen Schwamm.
Sie zog ihren Morgenrock aus, das Nachthemd ebenfalls, stand vor der offenen Schranktür und wußte im ersten Moment nicht, was sie anziehen sollte.
Ihre Gedanken waren noch zu sehr mit der schrecklichen Nachricht beschäftigt. Daß es soweit kommen würde, damit hätte sie niemals gerechnet. Sie wußte um Mehmets Aussagen, sie rechnete auch mit einem kleinen Pressewirbel der Medien, aber wer hatte den Zeugen umgebracht? Das Monster!
Ja, es mußte dieses Monster gewesen sein. Und wahrscheinlich hatte es auch die Sendung gesehen und sich durch die Aussagen des Mannes in die Enge getrieben gefühlt.
Beinahe hätte Tabea über sich selbst gelacht. Sie konnte es nicht nachvollziehen. Ein Monster, das vor der Glotze hockte? So etwas wollte ihr nicht in den Sinn. Es war möglicherweise in der Lage, die Folge von Bildern zu beachten, aber es hörte sicherlich nicht zu, was da beim Interview gesprochen wurde.
Da mußte noch etwas anderes passiert sein. Wie dem auch war, die Polizei würden ihr schon die nötigen Antworten auf die Fragen liefern.
Tabea wunderte sich darüber, daß sie plötzlich den hellblauen Pullover trug und dazu die dunkle Jeans. Automatisch hatte sie sich angezogen, ohne es groß bemerkt zu haben.
Sie schob nur noch den ebenfalls blauen Gürtel durch die Schlaufen und drehte sich dann um.
Der Schreck erwischte sie wie ein Stromstoß.
In der offenen Tür, aber schon im Zimmer, stand der Bote wie ein düsterer Todesengel. Noch immer hielt er die Hände in den Taschen, aber darauf achtete Tabea nur am Rande, sie konzentrierte sich auf das Gesicht, das gar nicht mehr so freundlich aussah.
Scheiße, dachte sie, da stimmt was nicht. Durch die Nasenlöcher saugte sie hastig die Luft ein und schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie im Wohnzimmer warten sollen. Wie lange stehen Sie schon hier, verdammt!«
»Lange genug.«
»Das ist eine dumme Antwort.«
»Nicht für mich.«
Tabea riß sich zusammen. Die Angst hatte sie zur Seite gedrängt und konzentrierte sich schließlich auf den Mann. »Sie – Sie sind gar kein Bote – wie?«
»Doch, ich bin einer.« Er nickte zu seinen Worten. Tabea gefiel nicht, wie er das gesagt hatte. Sie fühlte sich gestört und irritiert. In ihren Augen bewegten sich die Pupillen. Sie rang nach Worten und suchte zugleich nach einem Ausweg aus der Falle. Daß sie in einer Falle steckte, war ihr längst klargeworden, und irgendwo schien dieser Mann auch etwas mit Mehmets Tod zu tun haben, das setzte sich immer stärker in ihr fest.
»Wir können jetzt gehen«, sagte Tabea, die sich eigentlich nicht so leicht ins Bockshorn jagen ließ und ihren Vorsatz auch in die Tat umsetzte, denn sie trat einen Schritt nach vorn.
Darauf hatte der andere nur gewartet. Seine Arme bewegten sich, und mit provozierend langsamen Bewegungen zog er die Hände aus seinen Taschen.
Weil er dies tat und weil er dies auch so langsam tat, wurde Tabea aufmerksam.
Sie sah die Hände.
Nein, das waren keine Hände!
Das waren braune Pranken mit langen, leicht gebogenen Krallen!
***
Chelsea gehörte nicht eben zu den preiswerten Wohngegenden in London, aber wer als Moderatorin beim Fernsehen arbeitete, konnte sich hier eine Wohnung leisten. So auch Tabea Torny. Sie lebte in einem Haus, das
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