Gelinkt
Berlins, um Werner Volkmann abzuholen. Auf der Vogelfluglinie wäre der Weg nicht weit gewesen, aber der Vogel fliegt über die
- 348 -
Westsektoren der Stadt, gute Kommunisten aber müssen außen um West-Berlin herumfahren. Babelsberg lag nicht mehr auf dem Stadtgebiet von Berlin, gehörte zu Potsdam. Die westlichen »Schutzmächte« hatten dort auch nach dem eigenen Verständnis ihrer Befugnisse nichts zu suchen. Volkmann saß im Ausland-Block, in dessen Gebäuden einst der
Verwaltungsapparat der UFA-Filmateliers untergebracht gewesen war.
Hinter dem leeren Gebäude der Filmbibliothek und den Werkstätten war in einem ehemaligen Atelier für Außenaufnahmen noch eine Rokoko-Dorfstraße zu sehen, die einst für den während des Krieges gedrehten Münchhausen-Film gebaut worden war. »Das war einmal Marlene Dietrichs Garderobe«, sagte der schon betagte Polizist, der sie zum Sprechzimmer führte. Dabei zeigte er auf einen Abstellraum mit einem Vorhängeschloß an der Tür.
»Ja«, sagte Fiona. Der gleiche Polizist hatte bei ihrem letzten Besuch hier das gleiche gesagt. Im Sprechzimmer gab es ein vergittertes Fenster, durch das sie in den mit Kopfsteinen gepflasterten Hof hinabsehen konnte, wo sie ihren Wagen geparkt hatte.
»Soll ich den Häftling vorführen?«
»Bitte.«
Werner Volkmann sah verwirrt drein, als er hereingeführt wurde. Man hatte ihm die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Er trug einen abgestoßenen Ledermantel, auf dem Streifen weißer Lackfarbe waren. Sein Haar stand zu Berge, und er war unrasiert. »Erkennen Sie mich, Werner?«
»Natürlich erkenne ich Sie, Frau Samson.« Er war zornig und verstockt.
»Ich nehme Sie jetzt mit in mein Büro an der Karl-Liebknecht-Straße. Muß ich Sie von einem bewaffneten Polizisten bewachen lassen?«
»Ich werde nicht weglaufen, falls Sie das wissen wollen.«
- 349 -
»Hat man Ihnen gesagt, was Ihnen vorgeworfen wird?«
»Ich verlange einen Anwalt, einen Anwalt aus dem Westen.«
»Das ist doch albern, Werner.«
»Wieso?«
Es war erstaunlich, daß Werner, ein Deutscher, der regelmäßig die DDR besuchte, noch immer nicht verstand.
Nun, vielleicht war es das Beste, ihm erst mal beizubringen, was er gegen sich hatte. »Wir sind hier in der DDR, Werner, und wir schreiben 1984. Wir haben ein sozialistisches System.
Das Volk …«
»Die Regierung.«
»Das Volk«, wiederholte sie, »hat nicht nur die Leitung der Politik und der Wirtschaft, sondern kontrolliert auch die Gerichtshöfe, die Anwälte und Richter. Das Volk bestimmt über Zeitungen, Jugendverbände, Frauenvereine, Schachklubs und Schrebergärten. Das Privileg, Bücher zu schreiben, Briefmarken zu sammeln, Opern zu singen oder am Schraubstock zu arbeiten – irgendwo überhaupt zu arbeiten –, kann jedem jederzeit entzogen werden.«
»Ich soll also keinen Anwalt aus dem Westen verlangen?«
»Sie sollen keinen Anwalt aus dem Westen verlangen«, stimmte Fiona ihm zu. »Sie werden auf dem Rücksitz Platz nehmen. Die Handschellen kann ich Ihnen nicht abnehmen. Ich darf nicht einmal den Schlüssel bei mir haben. Das ist Vorschrift.«
»Kann ich mich waschen und rasieren?«
»Wenn wir in Berlin sind. Haben Sie hier noch
irgendwelches persönliches Eigentum?« Werner zuckte die Achseln und antwortete nicht.
»Gehen wir.«
»Warum Sie?« sagte Werner, als sie über das
Kopfsteinpflaster des Hofs zu dem geparkten Wartburg gingen.
»Machtpolitik«, sagte Fiona. Das bedeutete Verhandlungen
- 350 -
unter Gewaltandrohung und war ein Wort, das nur die Deutschen hatten.
Keiner von den längst verstorbenen Stadtbeamten, die den seltsamen Verlauf der alten Ortsgrenzen zeichneten, hätte ahnen können, daß Berlin eines Tages wirklich entsprechend dieser Grenzen definiert und geteilt werden würde. Das weit nach Süden vorgeschobene Lichtenrade, wo die S-Bahnstrecke, die früher bis Rangsdorf reichte, heute endet und wo Mozart, Beethoven und Brahms Straßen sind, die an der Mauer aufhören, war ein Hindernis, das Fiona auf dem Rückweg in ihr Büro nach Berlin-Mitte umfahren mußte.
Man fuhr normalerweise auf der Hauptstraße durch Mahlow, aber Fiona nahm Seitenstraßen, auf denen sie vielleicht ein paar Minuten schneller ans Ziel hätte kommen können, wenn sie nicht jenseits von Ziethen in ein verschlafenes Wohnviertel abgebogen wäre. Hier war eine Vorkriegsgartenstadt über die Stadtgrenze hinaus auf das heutige Gebiet der DDR gewachsen. Die von Bäumen gesäumten
Weitere Kostenlose Bücher