Gelinkt
andere zu verlieren. Fiona heiratete, und Tessa, vernachlässigt und verunsichert, verlor den Boden unter den Füßen; ein Opfer der Karrieresucht ihrer Schwester und der Gleichgültigkeit ihres Vaters. Die arme Tessa, was hätte aus ihr werden können, wenn Fiona sie beschützt und sie beraten hätte und ihr gegeben, was sie brauchte?
»Alles in Ordnung?« rief Tessa aus dem Nebenzimmer.
»Ich komme, Tessa. Es wird schon alles noch in Ordnung kommen. Ich verspreche es dir, ich kümmere mich darum.«
Tessa kam zu ihr. »Ich wußte es, Fi.« Sie warf die Arme um Fionas Hals und küßte sie. »Liebste, herzallerliebste, wunderbare Fi. Ich wußte es.«
Solche Gefühlsausbrüche waren Fiona unbehaglich, aber sie stand stocksteif da und ließ sich’s gefallen.
Wären die Umstände der Einladung zu dem Besuch bei Silas andere gewesen, Fiona Samson hätte jeden Augenblick des Wochenendes, das sie mit ihrem Mann und ihren Kindern in Whitelands, dem Landgut, auf das Silas Gaunt sich zurückgezogen hatte, verbrachte, unbeschwert genossen. Die sechshundert Morgen Land boten Gelegenheit zu den schönsten Spaziergängen und atemberaubende Aussichten über das mächtige Kalksteinplateau am Ufer des leuchtenden Severn. Aber unter den gegebenen Umständen drohten überall Sorgen und Gefahren. Dicky Cruyer, der unternehmende Leiter der Deutschland-Abteilung, und dessen künstlerisch angehauchte Frau Daphne waren da. Bret Rensselaer hatte ein blondes junges Mädchen mitgebracht. Eingeschüchtert von der ihr fremden Gesellschaft klammerte sie sich an ihn, so fest, daß die einzigen beiden Schlafzimmer mit einer Verbindungstür an diese beiden vergeben worden waren. Fiona vermutete, daß Bret das verlangt hatte, denn als sie Silas fragte, ob nicht ihre Kinder neben ihr einquartiert werden könnten, hatte dieser lachend erwidert, daß es noch dringendere Bedürfnisse als ihre gebe. Silas war ein Pirat oder sah doch wie einer aus. Ein riesiger, dickbäuchiger Kerl mit schweren Wangen und breiter Stirn, über der sich ein kahler Schädel wölbte. Seine zerbeulten Kleider waren von erlesener Qualität, aber er bevorzugte alte Klamotten – wie auch alten Wein und alte Freunde. Sie stellten die verschiedenen Flicken und die säuberlich gestopften Löcher, das Werk seiner treuen Haushälterin, Mrs. Porter, zur Schau wie ein alter Krieger seine Orden.
Das Haus war aus einheimischem Stein in schöner brauner Farbe erbaut. Dazu passend war die Einrichtung – wie die von dickem Firnis verdunkelten Familienporträts und die prächtige Kommode aus dem frühen 18. Jahrhundert. Silas Gaunt liebte das Eßzimmer, besonders wenn es voller Leute war wie beim Lunch an diesem Samstag. Gaunt stand am Kopf des wunderschönen georgischen Mahagonitisches und schnitt von einem beeindruckenden Rinderbraten Scheiben für die Samsons, Tessa, die Cruyers, Bret Rensselaer, seine alten Berufsgenossen, und beherrschte sie alle mit der Macht seiner Persönlichkeit. Fiona Samson sah all dem wie aus weiter Ferne zu. Selbst als ihr Sohn Billy sich das Hemd mit Soße bekleckerte, lächelte sie nur zufrieden, als sähe sie das Ereignis in einem alten Film. Sie beobachtete die Cruyers mit Interesse. Fiona hatte zur gleichen Zeit wie Dicky in Oxford studiert. Sie erinnerte sich, wie man ihm zugejubelt hatte an dem Tag, da er im Debattierklub triumphierte, und wie er sie an dem Tag zu verführen versuchte, da er seinen Kricketsieg feierte. Einer der aufgewecktesten unter den klugen Jungs am Balliol-College war er gewesen, den Posten des Leiters der DeutschlandAbteilung, für den eigentlich Bernard vorgesehen war, hatte er gekriegt, und nun hieß es, daß man ihm schließlich noch ganz Europa geben würde. Jetzt fragte sie sich, ob Silas Gaunt ihr vorschlagen würde, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen. Sie hoffte, nicht. Schon jetzt waren genügend Leute informiert, und daß Dicky es erfahren sollte, während man Bernard in Unwissenheit hielt, fände sie unerträglich. Dicky bemerkte, daß sie ihn ansah, und bedachte sie mit dem schüchternen Lächeln, das bei den Mädchen in Oxford so wirkungsvoll gewesen war. Sie beobachtete auch Tessa. Deren Mann, George Kosinski, war auf Reisen. Es war charakteristisch für Silas und bewies seine Intuition, daß er in der Vermutung, sie werde wohl mit Fionas Anruf auch irgendwas zu tun gehabt haben, auch Tessa eingeladen hatte, für den Fall, daß er mehr wissen mußte.
Als Silas nach dem Lunch die Herren zu Cognac und Zigarren ins
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