Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Beruf besaß.
Mein Vater meinte, ich hätte doch in der Schule recht akkurate geographische Karten gezeichnet. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft brachte er mich mit Hilfe eines Bekannten im Institut isobrasitelnoi statistiki (Isostat) unter, einer unmittelbar hinter der Lubjanka gelegenen Großwerkstätte für Propagandamittel. Die Probezeit bestand ich jedoch nicht. Ein im weißen Kittel herumflatternder Vorgesetzter drückte mir einen Kasten Gouache-Farben in die Hand und forderte mich auf, 144 in Zwölferreihen angeordnete Kreise abgestuft in den Regenbogenfarben anzupinseln. Ich brauchte dafür eine Woche, danach durfte ich gehen.
Mein Vater redete mir gut zu und vermittelte mir (wahrscheinlich mit Hilfe desselben Bekannten) einen zweiten Anlauf. Jedenfalls meldete uns irgendein einflussreicher Genosse bei Nadjeshda Krupskaja, der Witwe Lenins, die stellvertretende Volkskommissarin 2 für das Bildungswesen war. Das Erste, was mich im Gebäude des Volksbildungskommissariats verblüffte, war der penetrante Geruch, das Zweite eine Bemerkung unseres Begleiters. Während wir im Vorzimmer der Krupskaja warteten, sagte er nämlich, ich solle, wenn wir hineingingen, die Mütze auf dem Kopf behalten, damit ich nicht servil wirke, denn das habe die alte Dame nicht gern.
Die Krupskaja sah genauso aus wie auf den Fotos. Ich glaube sogar, mich entsinnen zu können, dass sie eine blaue Bluse mit aufgedruckten schmalen weißen Streifen trug, genau wie auf den Kalenderbildern, die in den Buchläden feilgeboten wurden – nur dass sie steinalt und unendlich müde wirkte. Sie sprach einwandfrei Deutsch, allerdings so leise, dass ich mich zu ihr niederbeugen musste, um ihre Worte verstehen zu können. Sie befragte mich über meine Vorstellungen und erklärte zum Abschluss des fünf- oder zehnminütigen Gesprächs, dass sie sich meinetwegen mit einer alten Genossin in Verbindung setzen und diese mir Bescheid geben würde.
Diese Genossin war Maria Frumkina, Rektorin der «Kommunistischen Marchlewski-Universität der nationalen Minderheiten des Westens» (KUNMS)* und Ehefrau des stellvertretenden Außenhandelskommissars Moise Frumkin. Sie bestellte mich nach wenigen Tagen zu sich. Maria Frumkina war eine stark übergewichtige, kranke Frau, die ihre geschwollenen Beine nur mit Mühe durch die Korridore schleppte. Sie begrüßte mich ebenfalls in ausgezeichnetem Deutsch und bot mir an, mich als Lehrling in der Lehrmittelabteilung ihrer Hochschule einzustellen. Ich sagte zu.
Die KUNMS war im Gebäude des Deutschen Gymnasiums aus der Zarenzeit untergebracht. Sie war 1921 auf Initiative Lenins gegründet worden. Anfangs wurden vornehmlich Angehörige nicht russischer Sowjetvölker hier unterrichtet. Daneben gab es aber auch schon Fakultäten – Sektoren genannt – für Polen, Tschechen, Rumänen, Jugoslawen, Esten, Letten, Litauer. Zu meiner Zeit war der deutsche Sektor, in dem die aus Deutschland gekommenen Emigranten überwogen, zahlenmäßig der stärkste.
Erster Rektor der KUNMS war Julian Marchlewski (nach dem die Universität später benannt wurde). Er war sowohl Mitbegründer der deutschen Spartakusgruppe als auch der Polnischen Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale gewesen, gehörte der alten Garde der Revolution an und war noch zutiefst vom Geist des Internationalismus durchdrungen. Dies galt genauso für seine Nachfolgerin Maria Frumkina. Sie kam ursprünglich aus dem sogenannten Bund, dem Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund (einer rechtssozialistischen jüdisch-litauischen Organisation), und war 1917/18 zu den Bolschewiki gestoßen. Nicht zuletzt solchen Persönlichkeiten war es zu verdanken, dass sich in der KUNMS bis in die dreißiger Jahre hinein Denk- und Verhaltensmuster der Revolutionszeit erhalten hatten. Der Umgangston war unprätentiös und denkbar einfach. Auf Titel und Orden wurde keinen Wert gelegt. Lehrer, Studenten und technische Mitarbeiter verkehrten gleichberechtigt miteinander, als Genossen. Selbst ich wurde in Gesprächen oder beim Sport (ich spielte eine Zeitlang in der Eishockeymannschaft des deutschen Sektors) von den Studenten genauso akzeptiert wie ein Dozent oder ein Gastlektor.
Mich verwunderte etwas, dass es auch einen jüdischen Sektor gab. In der kommunistischen Bewegung in Deutschland hatte man zwischen Juden und Nichtjuden keinen Unterschied gemacht. Später kam es mir auch merkwürdig vor, dass die jüdischen Dozenten, die natürlich allesamt nicht aus
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