Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Wohnhäuser tagsüber leblos; aber auch abends, wenn man die von der Decke herabhängende Glühbirne sah, wirkten sie nicht gerade wohnlich.
Schockiert war ich über die Rationierung der Lebensmittel, von der ich in Deutschland nie etwas gehört hatte. Zwar gab es – für deutsche Verhältnisse – genügend Brot (500 Gramm für die «Kopfarbeiter», im Unterschied zu den «Handarbeitern»), doch war das für russische Bedingungen, wo Brot früh, mittags und abends gegessen wurde, zu wenig. Außerdem konnte man sich in Moskau nur auf die Brotmarken verlassen, denn die übrigen Produkte wurden spärlich und oft genug gar nicht ausgehändigt, sodass viele Leute regelrecht hungerten. Ich empfand die Existenz des Kartensystems als bedrückend, redete mir aber mit Vokabeln wie «Bedarfsermittlung» und «Planvorlauf» ein, dass es bald verschwinden werde. Als das am 1. Januar 1935 tatsächlich geschah, atmete ich regelrecht auf – wieder hatte der Sozialismus einen Sieg errungen. Allerdings änderte das nichts an den riesigen Menschenschlangen vor den «Verteilern» (so wurden die Läden genannt), sobald es etwas zu kaufen gab. Erst mit der Zeit kam ich dahinter, dass sich selbst der Durchschnittsfunktionär – ich kannte nur solche – nicht ins Gedrängel stürzen brauchte, weil er seinen pajok (das wöchentliche Lebensmittelpaket) in einem Sonderladen erhielt, der von Zeit zu Zeit auch mal ein Stück Stoff beziehungsweise ein Paar billigere Schuhe gegen entsprechende Talons erhielt. Auf den Märkten, wo mit sauber gewaschenen Möhren, Kartoffeln oder Kohlköpfen gehandelt wurde, war alles – anders als in Deutschland – viel teurer als in den Geschäften.
In den ersten Monaten bummelte ich nicht zuletzt deshalb gern durch die Stadt, weil es bedrückend war, sich in dem Gemeinschaftszimmer aufzuhalten, das uns die MOPR im Hotel Passage zugewiesen hatte, da wir – als Nicht-Komintern-Zugehörige – das Lux bald hatten verlassen müssen. Dort standen sieben oder acht Betten, die zumeist von Politemigranten aus den Balkanländern belegt waren. Die ganze Einrichtung bestand aus ein paar Nachtschränkchen, einem Tisch und sechs Stühlen. Das einzige Fenster ging auf einen geräumigen, überdachten Hof hinaus, in dem Tag und Nacht (nachts bei grellem Scheinwerferlicht) an den Kulissen des nebenan befindlichen Meyerhold-Theaters gehämmert wurde.
Von allen Bewohnern des Hotels ist mir nur ein Genosse in Erinnerung geblieben. Er nannte sich Paul, hieß in Wahrheit aber Erich Ziemer und hatte das Privileg, ein, wenn auch winziges, Einzelzimmer zu bewohnen. Paul war ein Berliner Arbeiterjunge. Dass er eine abschnallbare Beinprothese trug, hing mit einem Ereignis zusammen, das eines seiner beliebtesten Gesprächsthemen war, sodass ich bald alle Einzelheiten kannte. Bei einer Demonstration am Berliner Bülowplatz am Tage des – später von der KPD verurteilten, damals aber von Faschisten und Kommunisten gemeinsam betriebenen – Volksentscheids zur Auflösung des preußischen Landtages am 9. August 1931 hatte Paul zusammen mit einem Genossen auf zwei besonders verhasste Polizeioffiziere geschossen und war selbst vom Gegenfeuer schwer verwundet worden. Die Offiziere waren am selben Tag verstorben, Paul war unter großen Schwierigkeiten über die Grenze gebracht worden. Was aus seinem Kumpel geworden ist, weiß ich nicht. 1 Paul dürfte die Terrorjahre in Moskau kaum überlebt haben.
Nach einigen Monaten mieteten Mutter und Hans, die auf ihrem «Punkt Zwei» wie in einer Pension lebten, jedoch nicht übermäßig viel Geld bekamen, für uns Jungs ein Privatzimmer zum ortsüblichen Preis von 150 Rubel (als ich Arbeit fand, betrug mein Monatsgehalt 90 Rubel), wobei Hans nicht müde wurde zu betonen, dass dies nur zur Entlastung der Roten Hilfe geschehe. Unser Domizil, das wir gegen Jahresende bezogen, befand sich in einem – allerdings teilweise schon wieder verkommenen – Neubau in der Spasso-Naliwkowsi-Gasse unweit der Bolschaja Poljanka.
Als schwierigstes Problem erwies sich, eine Arbeitsstelle zu finden. Im Grunde hätte ich nach meiner Ankunft in Moskau die deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule* besuchen müssen. Da die Schule aber weder von meiner Mutter noch von meinem Vater, der inzwischen ebenfalls mit seiner Freundin in Moskau angekommen war, oder von der Roten Hilfe erwähnt wurde, kam ich nicht auf den Gedanken. Das ist mir heute unverständlich, da ich weder einen richtigen Schulabschluss noch einen
Weitere Kostenlose Bücher