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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Nordurallagers des NKWD. Die seit den Zeiten des Stahlwerks bestehende Schmalspurbahn wurde auf eine Normalspur umgerüstet, es entstanden Dutzende von Dienststellen und Lagereinrichtungen, die heute die Siedlung beherrschen.
    Wir marschieren die uliza Lenina entlang zur Zone für Freigänger, die sich am anderen Ende der Siedlung befindet. Hier werden wir einquartiert, bis das Eis auf dem Fluss bricht. Man rechnet am 8. oder 9. Mai mit dem Eisgang.
    Die kleine, zum Bersten gefüllte Freigängerzone ist für die außerhalb der Zone beschäftigten Sträflinge eingerichtet (Ingenieure, Lokomotivführer, Kraftfahrer, Lageristen, Buchhalter usw.). Da sich unsere «Arbeitsarmisten» langsam, aber sicher auf der mittleren Ebene des Verwaltungsapparates breitmachen, haben sich auch unsere Leute dort eingenistet. Vereinzelt gibt es in den Freigängerbaracken auch zwangsdeportierte Finnen und Rumänen. Die seltsamste Figur unter Letzteren ist ein Jude aus Moldawien, der es zum Chef der Freigängerzone gebracht hat. Er heißt Drontschuk, kann sich in allen hier gängigen Sprachen verständigen, läuft in einem schmucklosen, aber akkuraten Anzug umher und lacht selbst bei den unpassendsten Gelegenheiten.
    Am Tage nach unserer Ankunft gehe ich zu ihm, um eine Ausgangserlaubnis zu erhalten (ich will versuchen, zu Dostal vorzudringen). Ich bin erstaunt über die Größe von Drontschuks Dienstzimmer. Noch mehr verblüfft mich sein Wandschmuck: Ein Stalin-Porträt hängt über dem Schreibtisch und über dem spartanischen Bett ein Spruchband: «Inter pedes puellarum est voluptas puerorum»  15 . Wahrscheinlich amüsiert sich der Zyniker Drontschuk (der zweifellos selbst dem NKWD zuarbeitet) über die ungebildeten Schnüffler, die den Slogan vermutlich für eine kommunistische Losung halten. Ich lasse mir meine Lateinkenntnisse natürlich nicht anmerken.
    Drontschuk empfängt mich wohlwollend und stellt mir, kaum dass ich mein Anliegen vorgebracht habe, einen Passierschein aus. Neugierig gehe ich durch die Wache und durchstreife den Ort, genieße es, auf dem verlassenen Markt oder vor einem Haus stehen zu bleiben. Ich frage mich zur Produktionsabteilung durch. Im Vorzimmer von Dostal muss ich eine Weile warten. Ich versuche, seinem Sekretär, einem gewissen Hartmann (auch von unserer Truppe), ein paar Worte zu entlocken, doch der hüllt sich in Schweigen. Schließlich darf ich eintreten.
    Dostal thront an einem übergroßen Schreibtisch, an dem, zur Eingangstür gerichtet, ein weiterer Tisch mit zehn oder zwölf Stühlen für Sitzungsteilnehmer steht. Kahl geschoren, in verdreckter und löchriger Kleidung stehe ich zwischen Tür und Stuhl. Aber Dostal hat schon bedeutendere Leute in abgewetzten Klamotten gesehen.
    Er blickt mich streng an: «Nun, was gibt’s?»
    «Ich bin der Mann, der auf der Schaitanka die Karte gezeichnet hat. Sie wollten mich damals sehen.»
    Nach einer kleinen Pause fragt er misstrauisch: «Hast du das wirklich ohne Vorlage gezeichnet?»
    Als ich mit «Ja» antworte, überlegt er kurz und wirft mir dann einen kleinen Block mit angebundenem Bleistift auf den Tisch: «Nun, dann zeichne mal eine Karte Frankreichs.»
    Nichts leichter als das! Gerade Frankreich habe ich, als ich in Moskau historische Karten zeichnete, unzählige Male vor mir gehabt. Ich mache also einen Schritt vorwärts, setze mich, lege los: Kanal und Atlantikküste, Pyrenäen, Mittelmeerküste, italienische, schweizerische, deutsche, luxemburgische und belgische Grenze, dann die größten Flüsse – Somme, Seine, Loire, Garonne und Dordogne, Rhône mit Saône – und danach die Städte …
    Nachdem ich etwa zwanzig Städte eingezeichnet habe, sagt Dostal: «Nun, zeig mal her!» Der Block schlittert über den polierten Tisch zu ihm zurück. Als er die Karte erblickt, sehe ich, dass er beeindruckt ist. Er scheint zu überlegen, wo er einen Mann wie mich einsetzen kann. Dann fragt er unerwartet:
    «Und rechnen? Kennst du dich mit dem Rechenschieber aus?»
    Als ich ihm auch das bejahe, fragt er: «Könntest du fürs Ministerium ein Album zusammenstellen, dick, bunt, überzeugend. Mit vielen Diagrammen, Zeichnungen, Tabellen und so weiter.»
    «Könnte ich, natürlich», beeile ich mich zu sagen. «Nur die Zahlen brauchte ich dafür.»
    Dostal zögert: «Ja, die Zahlen … Also fünfzehn- oder zwanzigtausend Festmeter müsste man herausschinden, Eigenbedarf, Verlust beim Flößen …»
    «Das würde ich schon hinbekommen», versichere ich und

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