Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Skandinavien ist zu lang geraten, der italienische Stiefel zu kurz. Von der hiesigen Belegschaft merkt das natürlich niemand. Trotzdem ist die Sensation verpufft. Der «Deutschländer» zeichnet eben Karten, wie andere Bastschuhe flechten. Außerdem interessieren sich die Leute nicht für Budapest oder Rom. Sie wollen nur wissen, wann Berlin fällt.
Da Götz sich als Chef um die Planerfüllung kümmern muss, eröffnet er mir Anfang März, dass das Brennholz zu Ende gehe. Am Quartalsende könne er keine Leute aus der Produktion abziehen und er sei deshalb genötigt, die Genesenden (es sind nur zwei: der von Furunkeln geplagte Andrej Dalinger und ich) zur Bereitstellung von Ofenholz an die alte Trasse zu schicken. Bäume fällen brauchten wir nicht – dort lägen noch viele Stämme vom Herbst herum. Er würde mich, weil ich ja nicht laufen könne, mit dem Schlitten hin- und zurückbringen lassen und garantiere uns 800 Gramm Brot. Nachts könne ich weiterhin die Mitteilung des Sowinformbüros in der Kantine anhören und die Pfeile auf den beiden Karten eintragen.
Wenn ich nicht ins Krankenhaus will, muss ich in diesen sauren Apfel beißen. Da uns die 800 Gramm sicher sind (die von uns angelegten Stapel werden nicht einmal vermessen), schieben Darlinger und ich eine ruhige Kugel. Allerdings muss ich mich, weil ich nicht lange stehen kann, beim Zersägen der Stämme auf einen Klotz setzen. Doch nehme ich das in Kauf, denn erstens darf ich auf der Schaitanka bleiben, zweitens wird es nun spürbar wärmer, mittags tropft es schon von den Zweigen, und drittens – das ist das Wichtigste – ist das Kriegsende in Sicht: Im Osten wird erst Kolberg genommen, dann Danzig; im Westen rücken die Amerikaner in Mainz, Mannheim und Frankfurt ein.
Eines Abends, als Darlinger und ich nach getaner Arbeit wieder in unsere Barackensiedlung gefahren worden sind, erwartet mich eine Überraschung. Wenige Stunden zuvor hat der Chef der Produktionsabteilung des Lagers, Dostal, den Musterpunkt Schaitanka inspiziert (gleichbleibende Planerfüllung 125 Prozent!) und sich dabei, als er die Kantine besichtigte, auch für meine Karten interessiert. Der Koch erzählt mir, wie Götz mich gelobt habe: «Genosse natschalnik , so etwas haben Sie noch nicht gesehen! Einen Burschen, der solche Karten aus dem Kopf zeichnen kann, ohne Vorlage! Und jedes Städtchen in Deutschland kennt er, nicht nur in Deutschland, in ganz Europa!»
Dostal, ein russifizierter Lette, ist ein gut aussehender, etwa fünfundvierzigjähriger Mann, der sich in vieler Hinsicht von der übrigen Obrigkeit des Lagers unterscheidet. Er ist, trotz seines verantwortungsvollen Postens, kein Offizier (zumindest trägt er keine Uniform und lässt sich nie mit «Genosse» und Dienstgrad ansprechen). Zudem hat er, was ich allerdings erst später erfahre, kulturelle Interessen – er besitzt mehr als 1000 Schallplatten und für Soswaer Verhältnisse viele Bücher. Seine Zugewandtheit zur Kultur pflegt er auf eine ungewöhnliche Art. Er pickt aus der Masse der Sträflinge und der mobilisierten Deutschen Leute heraus, die über besondere Fertigkeiten verfügen, und lässt sie für sich persönlich arbeiten. Ein Häftling entwirft Möbel für ihn, ein anderer fertigt ihm eine «Radiola», ein Radio mit einer Anlage zum Abspielen von Schallplatten.
Nach Götzens Lobeshymnen auf mich befiehlt Dostal, mich zu ihm zu bringen. Doch niemand weiß genau, wo ich mich befinde. Auch der Kutscher, der uns morgens hingebracht hatte und dann als Zubringer arbeitete, ist nicht auffindbar. So fährt Dostal ab, ohne mich gesehen zu haben.
IN DIE LAGERHAUPTSTADT
Mein Übergang vom Status eines faktisch Inhaftierten zu dem eines gewöhnlichen Verbannten vollzieht sich unmerklich und nimmt etwa ein Jahr, vielleicht auch etwas mehr in Anspruch. Deshalb kann ich die oft gestellte Frage nicht beantworten, wann ich aus dem Lager «entlassen» worden sei. Weder bin ich förmlich verurteilt noch jemals förmlich entlassen worden.
Gelockert hat sich das Regime bereits auf der Schaitanka, wo es de facto keine Bewachung mehr gab. Allerdings waren wir dort kasernisiert und wurden, obwohl Löhne gezahlt wurden, zentral verpflegt.
Das ändert sich mit meiner Versetzung nach Korelino. Dort lebe ich zum ersten Mal seit meiner «Mobilisierung» allein und muss mich selbst um meinen Lebensunterhalt kümmern. Dieses Intermezzo dauert jedoch nicht lange. Das Lager streckt immer wieder seine Fangarme nach mir aus, es
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