Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Situation an den Fronten erfahre ich so gut wie nichts. Ein Radioempfänger ist nicht aufzutreiben, und eine drei Tage alte Zeitung bekommen wir in der ganzen Zeit, in der ich dort bin, nur ein einziges Mal.
Als ich schon glaube, auf dem Posten des Lebensmittelbeauftragten das Kriegsende zu erleben, ergeht ein Befehl, demzufolge die gesamte Belegschaft des im Winter bewirtschafteten Punktes Schaitanka nach Likino verlegt wird. Ich stelle mich selbstverständlich dumm und tue so, als ob mich das nichts angehe. Doch Götz kommt auf der Durchreise bei mir vorbei und sagt: «Mach keine Fisimatenten, musst mit!»
Also wieder in den Wald, wieder Bäume fällen. Es ist zum Wahnsinnigwerden! Dann hängt mein Schicksal erneut von der verfluchten Normerfüllung ab. Abermals Sumpf, Mücken, vielleicht auch Hunger … Ich muss mir unbedingt etwas einfallen lassen. Vielleicht kann ich in Soswa, das auf unserer Route liegt, versuchen, an Dostal heranzukommen …
Am 3. Mai fahren wir bewacht mit dem Personenzug von Korelino über Werchoturje nach Serow und steigen dort um. Von Soswa solle es mit dem Schiff weiter nach Likino gehen. Größere Gepäckstücke hat keiner von uns, höchstens einen Umhängebeutel mit Kochutensilien oder Ersatzfußlappen. Seife, Zahnbürste, Waschlappen sind bei uns Fremdwörter. Ich selbst besitze nur einen Holzlöffel, der immer griffbereit in meinem Steppstrumpf steckt. Außerdem trage ich unter den Fetzen meines Unterhemdes versteckt ein «Sesamöffnedich» in eine ferne, unwirkliche Welt – mein Lateinlehrbuch von Krichazki. Den «Faust» habe ich verscherbelt, Goethes Aphorismen hat man mir geklaut.
In Werchoturje werden noch zwei Dutzend mobilisierte Deutsche in unseren Waggon geschubst. Sofort beginnt unter den Wolgadeutschen der Austausch von Neuigkeiten. Dieser oder jener sei gestorben, ein anderer «aktiert», also als Invalide anerkannt und warte nur noch auf seine Abschiebung nach Kasachstan. Auf dem Lagpunkt Borowljanka sei aus nicht einsichtigen Gründen ein Mann aus dem Sewsheldorlag* (Eisenbahnbau Kotlas-Workuta) gelandet, er heißt Oster und erzählt, dass die Menschen dort wie die Fliegen gestorben seien. Der behelfsmäßige politnik auf der Berjosowka, ein abgefeimter Kerl aus unserem Kontingent, hat es fertiggebracht, seine Frau aus Kasachstan kommen zu lassen, ist aber seitdem von Pech verfolgt. Er wurde wegen irgendwelcher Vergehen zum Holzfäller degradiert, und seine Frau, die wohl nicht mehr zurückkann, hat sich einen Offizier angelacht. Da grinsen die Leute – Schadenfreude ist süß.
Das Wenige, das wir von Serow zu sehen bekommen, wirkt verkommen. Dann die Endstation: Soswa, die schon mehrfach erwähnte «Hauptstadt» des Lagers. Der Bahnhof, im Grunde ein Schuppen, an dem alle zwei Tage ein Zug hält, befindet sich eine gute Viertelstunde vom Ort entfernt. Es regnet, die Straßen sind aufgeweicht, stellenweise versinkt man knietief im Morast. Die Hauptstraße heißt uliza Lenina und ist mit aus Brettern gezimmerten Bürgersteigen versehen (wie sich nachher herausstellt, nur vom Wohnhaus des obersten Chefs bis zu seinem Büro).
Soswa ist eine Siedlung von knapp 9000 Einwohnern (die Sträflinge ausgenommen). Sie besteht fast ausschließlich aus Holzhäusern. Außerdem gibt es vier charakteristische Brettergevierte mit Wachtürmen an den Ecken: den Wohnbereich des Kommandantenlagers in der Nähe des Bahnhofes, die Arbeitszone unmittelbar daneben, ferner ein Riesengelände mit 20 Wachtürmen, das den Holzstapelplatz, das Lokomotivdepot, verschiedene Werkstätten und ein Kraftwerk beherbergt sowie die Freigängerzone in der Schulstraße.
Früher gab es hier ein kleines Stahlwerk, das 1923 aber demontiert und flussabwärts nach Toblsk gebracht wurde. Zum Glück für die Bewohner, die zumeist Nachfahren Verbannter und Verfemter waren, wurde Anfang der Dreißiger (im Zuge des ersten Fünfjahrplans) mit dem Bau eines Sägewerks begonnen. Diese Initiative ging auf den Gebietsparteisekretär Kabakow zurück, einen Mann, der sich wie ein kleiner Stalin beweihräuchern ließ und sogar die Umbenennung des Rayonzentrums Nadjeshdinks in Kabakowks erreicht hatte. Einige Jahre später stellte sich heraus, dass das Sägewerk in dieser an Arbeitskräften armen Gegend unrentabel war, Kabakow wurde zum Volksfeind erklärt und erschossen. Im Zuge des Terrors, dem Kabakow zum Opfer fiel, löste sich aber auch das Problem des Arbeitskräftemangels: Soswa wurde zum Zentrum des
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