Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
bringt mich abermals hinter den Zonenzaun, kujoniert mich mit Brotrationen und lässt mich auf Appellplätzen antreten. Anfang 1946 wohne ich schließlich mit zwei Kumpels privat und habe sogar eine Freundin. Von diesem Zeitpunkt an datiere ich das Ende der Lagerzeit und den Beginn der Verbannung.
Aus der Schaitanka werde ich um den 1. April 1945 Hals über Kopf hinausexpediert. Zuerst hoffe ich, dass die Überstellung mit dem Besuch Dostals zu tun hat, doch der Hintergrund ist viel profaner. Der Lebensmittelbeauftragte von Korelino, ein gewisser Seyfert, ist verhaftet und muss umgehend ersetzt werden. Jemand hat sich auf den des Rechnens und Schreibens kundigen «Deutschländer» besonnen.
Ich fahre mit einem Pferdeschlitten, der Gewehrrohlinge transportiert, nach Korelino. Dort melde ich mich bei der OLP. Ein sympathischer Mann namens Koslow weist mich ein. Seine genaue Funktion habe ich vergessen. Er gehört zu den sogenannten direktiwniki , das sind ehemalige politische Häftlinge, die ihre Frist während des Krieges abgesessen haben, aber nach einer Direktive des Innenministeriums an dem Ort verbleiben müssen, an dem sie ihre Strafe verbüßt haben.
Koslow erklärt mir, dass ich für die Brot- und Lebensmittelkarten der an die 100 Freien und «Halbfreien» in Korelino verantwortlich bin. Ich muss sie ausgeben, von der Verkaufsstelle zurücknehmen und vernichten. Darüber hinaus erstreckt sich meine Zuständigkeit auf die Verpflegung der wenigen An- und Abreisenden, auf die Kontrolle und Registrierung der angelieferten Produkte, auf die Überwachung der Bäckerei und auf die anfallenden Umrechnungen verschiedener Lebensmittelarten. Gerade ist ein Waggon mit Erbsen angekommen, sodass ich schleunigst ermitteln muss, wie viele Erbsen es auf den Öl-, Gemüse- und Fleischabschnitt gibt.
Vorsichtig warnt Koslow mich davor, in Seyferts Fußstapfen zu treten. Mein Vorgänger, der nach wenigen Wochen wegen Veruntreuung sozialistischen Eigentums zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wird, hat sich durch Manipulation von Karten und Talons ein modernes polnisches Sakko, eine helle Hose, neue Halbschuhe und Ähnliches zugelegt und damit die Aufmerksamkeit der ohnehin misstrauischen NKWD-Ermittler erregt. Indes hätte es Koslows Andeutungen mir gegenüber gar nicht bedurft. Zudem passe ich mit meinen zerfransten Hosen und meiner von Brandlöchern gemusterten Jacke bestens in das graue Umfeld Korelinos.
Etwas anders verhält es sich jedoch mit einer für mich naheliegenderen Versuchung: dem Essen. Zwar ist die Verpflegung während der Schaitanka-Monate für hiesige Verhältnisse phantastisch gewesen, aber das Trauma des jahrelangen Hungers sitzt so tief, dass ich schon in den ersten Stunden der neuen Funktion fast wider Willen darüber nachdenke, wie ich mir ein paar zusätzliche Brotkarten abzweigen kann.
Kompliziert ist das nicht. Zu meinen Pflichten gehört, den Offizieren und direktiwniki , die in andere Lagpunkte versetzt werden, zu bescheinigen, bis zu welchem Tag sie Brotkarten erhalten haben. Da die Karten in der Regel für einen Monat ausgegeben werden, kassiere ich die überzähligen ein. Für den Fall einer Revision (die aber zu meiner Zeit nicht stattfindet) registriere ich die zurückgegebenen Gutscheine säuberlich, manipuliere jedoch die Buchführung so, dass immer ein, zwei Brotkarten übrig bleiben. Diese trage ich dann ständig mit mir herum, um sie, falls mal etwas schiefgehen sollte, rasch zu verschlucken.
Oberstes Gebot beim Agieren in dieser Grauzone ist natürlich, dass ich niemanden in meine Machenschaften einweihe. Selbst meine Zimmerwirtin, ein dürres Mütterchen, das die von mir erschlichenen Talons im Laden einlöst und mir allmorgendlich einen Viertelliter Milch dafür gibt, weiß nicht, woher die Gutscheine kommen. Sie denkt wahrscheinlich, dass ich als Lebensmittelbeauftragter stets ein paar Talons übrig habe, und ist mir dankbar. Auch andere Leute gehen davon aus, dass ich über stille Reserven verfüge, und betteln mich sogar an. Aber ich kann, so leid mir der eine oder andere tut, ihnen nicht helfen – ringsum wimmelt es von Denunzianten.
In Korelino führe ich ein geregeltes Leben. Ich schlafe im eigenen Zimmer, habe zum Frühstück ein Glas Milch, gehe morgens zur Arbeit, inspiziere meine Außenposten, kehre abends zurück, wechsle ein paar Worte mit meiner Wirtin und lege mich ins Bett. Freunde oder Leute, mit denen man sich austauschen könnte, habe ich nicht. Über die
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