Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Moskau fortwollten, stets darauf aus waren, das jüdische Siedlungsgebiet im Fernen Osten, Birobidshan, in gutem Licht erscheinen zu lassen. Je mehr ich nämlich über das dortige raue Klima und den ewig gefrorenen Boden erfuhr, desto mehr zweifelte ich an dem Gerede von einer neuen Heimat für die russischen Juden – auch wenn ich mich für meine Zweifel schämte.
Rasch eignete ich mir die Fähigkeiten an, die man beim Zeichnen von Lageplänen, Diagrammen, Tabellen und diversen Schemata benötigt, qualifizierte mich sogar zum mittelmäßigen Kartographen. Besonders gern gestaltete ich den farbenfrohen Kopf und die bunten Artikelüberschriften der täglich für die Angestellten der KUNMS erscheinenden Wandzeitung Rabotschij byt («Arbeitsalltag», Zeitung der technischen Mitarbeiter: Heizer, Köche, Sekretärinnen, Zeichner usw.). Neben den offiziellen Leitartikeln enthielt die Wandzeitung auch teilweise herbe Kritik an den Unzulänglichkeiten im Arbeitsalltag und sogar an Leitungsmitgliedern, was ich als wesentlichen Bestandteil einer neuen, unmittelbar von den Werktätigen ausgehenden Demokratie betrachtete.
In der Lehrmittelabteilung wuchs ich in ein Kollektiv Moskauer Jugendlicher und damit in das russische Leben hinein. Ich wurde mit den Sorgen der Kollegen vertraut und lernte ihre kleinen Nöte kennen, die mal eine in der Wäscherei zerrissene Unterhose, mal das am Monatsende fehlende Geld betrafen. Die Zeichner, etwa acht oder zehn Leute, unterstützten mich, den manchmal begriffsstutzigen Emigranten, nach Kräften. Sie brachten mir russische Redewendungen, bisweilen auch obszöne Ausdrücke bei und amüsierten sich, wenn ich sie nachplapperte. Bei vielen Gelegenheiten erteilten sie mir Ratschläge, bemühten sich um meine fachliche Ausbildung und gaben mir Tipps, wenn ich in bürokratische Amtsstuben vorgeladen wurde. Ganz ernst wurden sie, wenn sie mir erklärten, warum bestimmte Missstände bis jetzt nicht abgestellt werden konnten. Da hörte ich aufmerksam zu, war ich doch an Erklärungen für mir häufig unverständliche Engpässe interessiert. Manches blieb mir jedoch schleierhaft. Als beispielsweise ein freiwilliger Arbeitseinsatz, ein subbotnik *, veranstaltet wurde, schleppte ich beschwingt Kartoffelsäcke aus einem Keller in den eines anderen Gebäudes (von kostenlosen Arbeitsleistungen hatte ich bereits bei Lenin gelesen), doch als beim nächsten subbotnik die Kartoffeln – noch dazu bei Regen und Matsch – wieder zurückgekarrt werden mussten, war meine Begeisterung dahin, und ich bezeichnete solches Hin und Her als sinnlos. Da aber unterstützten die Kollegen mich nicht: Der Lagerverwalter, meinten sie, wisse am besten, welche Keller für das Einlagern der Kartoffeln geeignet seien. Und überhaupt – das machte mich besonders stutzig – solle man sich nicht in fremde Arbeitsgebiete einmischen.
Trotz solcher Unstimmigkeiten tat mir das Arbeitskollektiv gut. Über gemeinsame Kino- und Kulturparkbesuche, auch durch gelegentliche Abende im Theater oder Konservatorium bildeten sich Interessengruppen, manchmal auch kleine Liebeleien, die sich jedoch nicht entfalten konnten, weil die Mädchen zu dritt oder viert in Zimmern betriebseigener Heime wohnten, wo der Empfang von Fremden streng verboten war.
Viele Schwierigkeiten in der roten Metropole waren Folge des herrschenden Platzmangels. Erst viel später begriff ich, dass diese Raumknappheit auf vielfältige Ursachen zurückging – auf die Bevölkerungsströme vom Land in die Stadt, die sich durch die Kollektivierung enorm verstärkten, auf die in Gang befindliche Industrialisierung, auf die ständig zunehmende Bürokratisierung und die Gründung neuer Institutionen, Ausschüsse, Komitees und Kommissionen. Zunächst sah ich lediglich, dass auch das Gebäude der KUNMS aus allen Nähten platzte und unser Zeichenbüro auf dem Rang der Aula untergebracht wurde. Das hatte den Vorteil, dass ich, während ich Linien zog und Flächen ausmalte, die Referate mithören konnte, die unten gehalten wurden. Meinen Russischkenntnissen kam das sehr zugute. Häufig wurden aber auch Vorträge auf Deutsch gehalten, bei denen ich so manches über die Geschichte des Bolschewismus, die internationale Lage oder die von bürgerlichen Politikern des Westens versuchte (und natürlich zum Scheitern verurteilte) Krisenbewältigung lernte.
In der ersten Moskauer Zeit verbrachte ich meine Abende häufig im «Klub ausländischer Arbeiter»* in der uliza Gerzena (im Gebäude
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