Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
des heutigen Revolutionstheaters), der einer besinnlichen Oase in der brodelnden Stadt glich. Während sich sonst auf den Plätzen und Boulevards, in den Straßen und Gassen Hektik, Hast und Schmuddligkeit breitmachten, konnte man in den weitläufigen Räumen des Klubs durchatmen. Der Klub war die ganze Woche hindurch bis spät in die Nacht geöffnet und immer gut beheizt. Es gab einen Lesesaal, den man nur flüsternd betrat, ein durch seine Stille einschüchterndes Schach- und Billardzimmer, ein als Rauchsalon aufgemachtes Kabinett für intimere Plaudereien und den großen Saal, in dem allabendlich Kinovorführungen und Vorträge stattfanden. Anziehend war zudem die preiswerte Imbissstube, wo man günstig Tee (ungesüßt) und einen Happen zu essen bekommen konnte. Zur Auswahl standen meist nicht mehr als Rote-Rüben-Salat und Marmeladenschnitten, für die man allerdings hier keine Brotmarken abgeben musste.
Vor allem war der Klub, in dem zumeist Deutsch gesprochen wurde, eine Stätte der Begegnungen. Man traf in Moskau lebende Emigranten oder solche, die gerade aus Deutschland angereist waren und etwas über die Situation und die Stimmung in Berlin berichten konnten; man traf aber auch deutsche Berg- oder Stahlwerker aus dem Donbass, die nur ein paar Tage in der Hauptstadt waren und unwahrscheinliche Dinge über die geheimnisumwobenen Weiten des Landes erzählten, oder unpolitische Spezialisten, die von uns bürgerlich genannt wurden.
Die politische Prominenz verkehrte nicht im Klub. Leute wie Pieck und Ulbricht, auch Becher und der kurzfristig in Moskau weilende Brecht waren in der Regel besser untergebracht als wir und konnten ihre Freunde zu Hause empfangen. Immerhin sah ich zuweilen Gustav von Wangenheim, der eine Zeitlang mit einer Laientruppe ein neues Stück inszenierte, oder den Dramatiker Friedrich Wolf, der manchmal von seinen laut in den Räumen herumtollenden Söhnen begleitet wurde – Konrad, dem späteren Filmregisseur und Präsidenten der Akademie der Künste der DDR, und Markus, dem nachmaligen Spionagechef unserer Republik.
Mein Kontakt im Klub beschränkte sich allerdings auf gewöhnliche Sterbliche, meist deutsche Jungkommunisten, die jetzt als geschätzte – und natürlich gut bezahlte – Facharbeiter im neu errichteten Moskauer Kugellagerwerk, bei AMO (später Stalin-Autowerk) oder in anderen Großbetrieben tätig waren.
Obwohl 80 bis 90 Prozent der Klubmitglieder männlich waren, wimmelte es dort auch von Frauen und Mädchen, weil jedes Mitglied seine Freundin oder Bekannte mitbringen durfte. Dies führte dazu, dass der Klub so etwas wie eine Bekanntschaftsvermittlung wurde. Im Foyer drückten sich ständig mehr oder weniger nett aufgemachte Damen herum, die jemanden suchten, der sie nach «oben», in die Klubräume führen konnte. Bei diesen Frauen handelte es sich sowohl um erlebnishungrige Damen als auch um Studentinnen, die Kontakt zu Muttersprachlern suchten, aber natürlich nichts dagegen hatten, gelegentlich von einem der Ausländer, die durchweg als wohlhabend galten, zu einem Imbiss eingeladen zu werden. Als völlig mittelloser Jüngling war ich für die meisten dieser Damen uninteressant.
Eine Zeitlang nahm ich eine ältere Kollegin aus der Zeichnertruppe, die für uns beide gelegentlich Freikarten im Meyerhold-Theater besorgte, in den Ausländerklub mit. Sie hieß Kapitolina, wurde Kapa genannt und galt als farblos, weil sie sich nie an den unter uns gängigen Gesprächen und Albernheiten beteiligte. Als sie jedoch bei den Theater- und Klubbesuchen peuà peu auftaute, erfuhr ich beiläufig, dass ihr Vater während der Zeit der NÖP* (Neue Ökonomische Politik) eine kleine Fabrik für Ausziehtusche betrieben hatte und sie selbst außer Deutsch auch Englisch und Französisch sprach und überdies – welche Überraschung! – aus einer baltischen Adelsfamilie stammte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die meisten der sogenannten Ehemaligen* – Aristokraten, Fabrikanten, Gutsbesitzer – 15 oder 16 Jahre nach der Oktoberrevolution ja nicht einfach verschwunden waren, sondern stillschweigend in der Gesellschaft weiterlebten.
Kurz nach den Februarkämpfen 1934 in Wien tauchten im Klub mehrere Dutzend emigrierter Schutzbündler* auf (von denen sich allerdings ein Teil, offenbar von der Sowjetrealität enttäuscht, schon nach wenigen Wochen zur Rückreise nach Österreich entschloss). Einer von denen, die dablieben, hieß Sepp. Er war lang, schlaksig, rothaarig, von Beruf Koch
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