Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
antwortete Klimauskas, «ich kann sie nachher auch wieder auseinanderschrauben.»
«Was quatschst du da?», fragte Ryblow zurück.
«Nun», kam die Antwort, «diese Rohre müssen wieder abgeschraubt werden, denn hier gehören eigentlich Eineinhalb-Zoll-Rohre her, anderenfalls entsteht ein Stau, und die Heizung funktioniert nicht.»
Ryblow hörte nicht auf den abgerissenen Gefangenen, besann sich aber auf ihn, als sich die Heizungsanlage des ersten Gebäudeflügels beim Probelauf als untauglich erwies. Klimauskas wurde zum Chef der Bauabteilung, Washezew, beordert. Der sagte: «Es heißt, du hättest gesagt, die Heizung würde nicht funktionieren. Stimmt das?»
«Jawohl, Bürger Chef.»
Daraufhin Washezew: «Hm, ich werde mir deine Akte kommen lassen. Was bist du denn von Beruf?»
«Diplomingenieur für den Bau von Hoch- und Niederdruckkesseln.»
«Hm, hm. Da müsstest du doch eine Heizung projektieren können.»
«Selbstverständlich.»
So kam Klimauskas zu uns ins Projektierungsbüro. Er war unser stillster Kollege, summte nur leise, während er sich über das Reißbrett beugte, Melodien von Vivaldi, Mozart, Chopin vor sich hin. Selten kam es – und zwar immer in Deutsch – zu Gesprächen zwischen ihm und mir, manchmal auch zu ein paar russischen Sätzen zwischen ihm und den Mitarbeiterinnen des Büros. Ihnen begegnete er zurückhaltend, aber mit großer Verehrung. Verlegen bedankte er sich, wenn sie ihm bisweilen ein Stück Kuchen oder eine andere Kleinigkeit mitbrachten. Im Gegensatz zu anderen Häftlingen bat er die Frauen niemals nur um die kleinste Gefälligkeit.
Als die Entlassung der Litauer näher rückte, sagte jemand zu ihm, dass er sich freuen könne, nun bald ein freier Mann zu sein. Daraufhin schwieg er lange und entgegnete schließlich: «Was soll mir diese Freiheit schon bringen? Man wird mir bestimmt nicht erlauben, dorthin zu fahren, wo meine Frau und meine Tochter leben.»
Er sollte recht behalten.
Als er freikam, hörten wir drei oder vier Monate nichts von ihm. Dann erhielten wir auf einem Fetzen Papier einen tieftraurigen Brief. Er war in ein winziges Nest im Norden des Krasnojarsker Gebiets verfrachtet worden, in dem es nicht einmal Strom gab. Er klagte über das ihn umgebende Misstrauen der wenigen Einheimischen und der russischen Verbannten. Arbeiten musste er unter freiem Himmel, obwohl er keine angemessene Kleidung besaß. Warme Sachen konnte man nicht kaufen, zudem hatte er kein Geld.
Wir – da lebte ich schon mit Taja (Taissja Petrowna) zusammen – schickten ihm ein Paket: Meinen vor einem Jahr auf dem Markt gekauften alten Rotarmistenmantel, den ich einigermaßen entbehren konnte, ein paar Fausthandschuhe, zwei Kerzen und einige Päckchen Trockensuppe – alles Dinge, die auch in Soswa schwer aufzutreiben waren. Er bedankte sich in rührender Weise mit einem Brief, der noch pessimistischer klang als sein erster. Von Frau und Tochter hatte er keinerlei Nachricht. Zwei Zehen waren ihm abgefroren. Ihn halte, schrieb er, nur die «Feierstunde» aufrecht, die er sich abends, nach dem Tag in der Kälte, erlaube. Da zünde er sich für ein Viertelstündchen eine Kerze an (mit Licht müsse er sparen), verzehre sein Brot und seinen Tee. Allerdings wisse er nicht, ob er die Kraft aufbringe, solch ein Leben lange zu ertragen.
Wir schickten ihm noch ein Paket: Getragene, aber dafür frisch besohlte Filzstiefel, wieder zwei Kerzen und Bonbons, die auch bei uns eine Rarität waren. Eine Antwort von Kasimir Matwejewitsch Klimauskas haben wir nicht mehr bekommen.
Nicht direkt zu unserem Büro gehört ein Politischer, ein unheimlicher junger Mann mit geradezu versengendem Blick namens Chalizki. Ihm wird nachgesagt, er habe in Deutschland auf bestialische Weise einige Morde begangen. Er ist Autodidakt mit erstaunlichen physikalischen Kenntnissen, nimmt zum Beispiel einen defekten Radioapparat, an dem sich schon viele Bastler versucht haben, auseinander und baut ihn funktionstüchtig wieder zusammen oder installiert im Projektbüro (damals eine Sensation!) eine sich automatisch öffnende Tür.
Nach seiner Ankunft im Lager behauptet Chalizki in einem Gesuch an die Verwaltung, er stehe kurz vor dem Abschluss einer «für die Vaterlandsverteidigung bahnbrechenden Erfindung», die es ermögliche, jedes feindliche Flugzeug schon mit der ersten Salve vom Himmel zu holen. Nun gehen derartige Schriftstücke bei der Lagerverwaltung massenhaft ein, werden aber meist nicht beachtet, da sie
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