Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
aufgehoben. Im April 1946 teilt man uns mit, dass wir von nun an «gewöhnliche» Sonderausgesiedelte ( spezpereseljenzy ) seien und annähernd dieselben Rechte hätten wie alle Sowjetbürger.
Wir könnten also wählen, ein Zimmer mieten, gegebenenfalls ein Haus bauen, heiraten, Gewerkschaftsmitglieder, ja womöglich sogar Parteimitglieder werden (darüber schwiegen sich unsere Chefs jedoch aus, wissen sie wohl selbst nicht). Nur dürften wir den uns zugewiesenen Wohnort nicht verlassen. Allerdings stünde uns frei, zwecks Familienzusammenführung Anträge auf Zuweisung eines anderen (natürlich nur im asiatischen Teil der UdSSR gelegenen) Aufenthaltsortes zu stellen oder – wozu uns die Lagerverwaltung rät – die Umsiedlung unserer Angehörigen aus Kasachstan hierher, in den Nordural, zu beantragen.
Später stellt sich heraus, dass derartige Gesuche wegen der Schwerfälligkeit des bürokratischen Apparates zwei oder drei Jahre lang bearbeitet werden.
Mein erster Gedanke nach dieser nebulösen Eröffnung ist, dass mir nunmehr auch das Recht auf Bildung zustehe; dass mir also gestattet werden müsste, mein Studium abzuschließen – und sei es nur als Fernstudent in Swerdlowsk. Gewiss, sage ich mir, gebe es in Soswa keine Arbeitsmöglichkeit für einen Hochschulabsolventen, doch sei eine künftige Lockerung der Verbannungsbedingungen nicht auszuschließen. Für diesen Zeitpunkt müsse man gerüstet sein, also ein Diplom in der Tasche haben. Vielleicht, sinniere ich, ergäbe sich zu einem nicht allzu fernen Zeitpunkt die Möglichkeit, in eine sibirische Universitätsstadt überzusiedeln und dort – in der Zukunft – wie ein Mensch zu leben. Mit «Zukunft» meine ich eine Zeit, in der der «Führer aller Werktätigen» tot sein wird, ich aber noch lebe. Fest bin ich davon überzeugt, dass sich dann alles ändern wird …
An diesen Gedanken knüpft sich ein zweiter. Ich muss, eine geplante (oder tatsächliche?) Familienzusammenführung vorschützend, die Genehmigung zu einem Kurzaufenthalt in Kasachstan ergattern, um endlich zu erfahren, was mit Veronika in all den Jahren passiert ist. Zugleich muss ich die noch in Kasachstan befindlichen Papiere über mein Moskauer Studium an mich bringen.
Zunächst beschließe ich, das uns zugestandene Recht auf ein Zimmer wahrzunehmen und aus der widerwärtigen und stinkenden Freigängerbaracke auszuziehen. Endlich mal wieder allein sein. Doch ein eigenes, separates Zimmer ist in Soswa nicht so leicht zu bekommen. Und das neue Recht steht ohnehin auf wackligen Füßen. Mir wird bedeutet, dass es, wegen der Kontrolle, «wünschenswert» sei, wenn sich drei oder vier «Ex-Arbeitsmobilisierte» gemeinsam eine Bude mieten. Also suche ich ein Zimmer für Ljonja Usaitis, Petja Tews und mich. Ich finde es bei der steinalten Marakulina, deren Tochter, eine ehemalige Mitarbeiterin der Lagerverwaltung, wegen Korruption einsitzt und die sich deshalb mit der Vermietung ihrer beiden Zimmer über Wasser halten muss (ihr zweites Zimmer, durch das wir hindurchmüssen, hat sie an einen kürzlich freigelassenen, geschwätzigen Schneider vermietet). Die Alte selbst begnügt sich mit ihrer winzigen Küche, in der sie meistens auf dem Brett über dem Ofen ( leshanka ) hockt.
Jetzt brauche ich die langen Abende nicht in den Räumen der Forstabteilung zu verbringen, sondern kann mich nach Feierabend auf meinem Bett ausstrecken und lesen. Bücher gibt es genug, weil in den ersten Kriegstagen eine ausgezeichnete Leningrader Bibliothek nach Soswa ausgelagert worden ist, die von der Bevölkerung indes kaum wahrgenommen wird. Der Direktor des Sägewerks, Kuftyrew, hat nach langen Kämpfen durchgesetzt, dass die Bücher behelfsmäßig geordnet und zweimal in der Woche von einer Bibliothekarin ausgeliehen werden. Die Bestände dort sind wirklich überwältigend – von Sophokles über Petronius bis hin zu John Milton, Lord Byron, Erich Maria Remarque und Lion Feuchtwanger gibt es (auch in Deutsch und Englisch) so gut wie alles. Bald kenne ich mich als engagiertester Benutzer in den Bücherregalen besser aus als die Bibliothekarin und schleppe Woche für Woche dicke Bände nach Hause. So verschlinge ich, allerdings gänzlich unsystematisch, haufenweise Werke, die mir neue Welten eröffnen: Aristoteles, Horaz und Cervantes, Rudyard Kipling, Bernard Shaw, Beaumarchais oder Victor Hugo. Ich entdecke mir bis dahin unbekannte russische Dichter, zum Beispiel Semion Nadson und Dmitri Mereshkowski, manchmal
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