Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Artikel 58, Absatz 10 Abgeurteilten dürfen sich normalerweise nicht einmal in einer Kreisstadt niederlassen, Krasnojarsk ist aber nicht nur Gebietszentrum, sondern auch Großstadt. Allerdings muss er, um dort verbleiben zu können, auch dort freigelassen werden. Aber selbst das haben seine Moskauer Gönner bedacht, denn kurz vor Ende seiner Haftzeit wird er nach Krasnojarsk verbracht. Ehe er abtransportiert wird, bittet er mich, für ein Paket, das er aus Amerika erwartet, meine Adresse zur Verfügung zu stellen und ihm das Paket dann nachzusenden. Das tue ich und erhalte alsbald ein Paket mit einem tadellosen Anzug – so etwas Feines habe ich selbst vor 1933 nicht gesehen! Außerdem zwei Oberhemden, Krawatte, Halbschuhe, Socken usw.
Längst nicht so gut ergeht es den beiden anderen Litauern. Jankauskas liegt, als sein Freilassungstermin näher rückt, im Krankenhaus. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Über Klimauskas habe ich, damals zutiefst berührt von seinem Schicksal, vor mehr als drei Jahrzehnten eine Skizze seines Lebens angefertigt. Ich will sie hier in vollem Wortlaut wiedergeben:
Kasimir Matwejewitsch Klimauskas wurde zwischen 1890 und 1895 als Sohn eines armen Bauern in der Nähe von Kowno (Kaunas) geboren. Obwohl er die Dorfschule bisweilen schwänzen musste, um mit dem klapprigen Gaul der Familie den Acker zu pflügen, erkannten sowohl Lehrer als auch Pfarrer seine Begabung und überredeten die Eltern, ihn aufs russische Gymnasium nach Vilnius zu schicken. 1915 wurde er zur Armee einberufen und wegen seiner Geschicklichkeit als Reparaturschlosser eingesetzt. Während der Wirren 1918/19 schlug er sich als Klempner durch, bis er sich 1920, da er auch vorzüglich Deutsch sprach, nach Berlin aufmachte und sich dort an der Technischen Hochschule Charlottenburg immatrikulieren ließ. Zwei Jahre später ging er an die Technische Hochschule nach Paris und schloss dort sein Studium ab. Als junger Diplomingenieur erhielt er eine Anstellung bei der Litauischen Staatsbahn, verheiratete sich Ende der zwanziger Jahre glücklich und wurde Vater einer Tochter. Bei der Bahn war er unter anderem zuständig für den Kauf von Lokomotiven, reiste viel in Europa umher (zu den Skodawerken nach Pilsen, zu Krupp nach Essen usw.) und avancierte 1935 zum Chef der für das rollende Material zuständigen Eisenbahnverwaltung (solche Verwaltungen gab es – der zaristischen und auch der sowjetischen Struktur entsprechend – drei: für das Streckennetz, für den Verkehrsablauf und für das rollende Material).
Als die Rote Armee im Juni 1940 Litauen besetzte, wurde Klimauskas wenige Tage nach dem Einmarsch zu einem sowjetischen General bestellt und erhielt die Anweisung, binnen 48 Stunden einen Zug aus 40 Waggons zum Soldatentransport zusammenzustellen. Persönlich überwachte er den Zustand der bereitgestellten Mannschaftswagen, das Anbringen der Pritschen und Ähnliches und meldete dem termingerecht mit einer NKWD-Bereitschaft auf dem Kownoer Güterbahnhof erschienenen Auftraggeber, dass die Anweisung ausgeführt sei. «Ausgezeichnet», befand der General, «nun steigen Sie mal als Erster ein.» Klimauskas war sprachlos, doch blieb ihm nichts übrig, als zu gehorchen. Er hatte sich nicht einmal von Frau und Tochter verabschieden können. Während nun andere Opfer – vorwiegend Intellektuelle – aus ihren Wohnungen abgeholt wurden, stand der Zug noch 24 Stunden auf dem Abstellgleis. Dann setzte er sich mit 1600 Mann an Bord in Bewegung, nach Soswa. Dort wurden die Insassen im August 1940 (also zur Zeit des «feierlichen Anschlusses» Litauens an die UdSSR) in Drei-Minuten-Verfahren von einer Troika* wegen «konterrevolutionärer Tätigkeit» zu zehn Jahren Haft verurteilt. Erst sehr viel später erfuhr Klimauskas, dass seine Frau und seine Tochter nach Kasachstan deportiert worden waren. Eine briefliche Verbindung mit ihnen kam nur mit Mühe zustande.
Fünf Jahre kämpfte Klimauskas als Baumfäller in der Taiga rund um den Lagpunkt Likino gegen Unterernährung, Dystrophie und Furunkel. 1945 stellten die Ärzte bei ihm akute Herzschwäche fest, verpassten ihm die Kategorie «leichte Arbeit» und schickten ihn als Hilfsarbeiter zum Bau des neuen Verwaltungsgebäudes nach Soswa. Dort schleppte er Balken, Bretter und Heizungsrohre, bis ihn eines Tages, an dem ein Klempner ausgefallen war, der versoffene Vorarbeiter Ryblow fragte, ob er nicht einige Rohre zusammenschrauben könne.
«Gewiss kann ich das»,
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