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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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durch, fegt die Räume aus (unterscheidet dabei zwischen mineralischem und organischem Dreck) und gräbt bei einem Wachoffizier den Garten um. Er schleppt den unhandlichen Kopierrahmen an die Sonne (als er einmal die schwer zu beschaffende Scheibe des Rahmens zerbricht, weist er Schuldzuweisungen zurück und erklärt, das Glas sei nach dem Pascal’schen Gesetz geborsten, das er nicht außer Kraft setzen könne). Er ist klein, dicklich, immer unrasiert und schmutzig. ‹Dieses Hemd›, sagt er gelegentlich, ‹habe ich doch in diesem Jahr schon einmal gewaschen.› Wenn er einen Schrank im Büro übernimmt, herrscht dort nach drei Tagen absolutes Chaos. Dabei ist er immer liebenswürdig und blinzelt einen durch die Gläser seiner selbstgebastelten Brille unschuldig an. Er verlässt sich nur auf das Experiment. Gesellschaftswissenschaften sind für ihn reiner Humbug, auch jeder anderen Literatur sei zu misstrauen. Man liest keine Bücher mehr, wenn man über 25 ist, so doziert er, allenfalls schreibe man welche, aber nur, wenn man damit Geld verdienen könne.»
    Als reine Fachleute präsentieren sich Sekershizki und Sykow. Sekershizki ist Mathematiker. Sein Vergehen besteht darin, dass er während eines Urlaubsaufenthalts bei seiner Mutter in Minsk vom Krieg überrascht wurde und während der Besatzung als Techniker in Minsk gearbeitet hat. Bei uns berechnet er die Statik, macht aber meist, indem er, mit seinem Bleistift spielend, in die Luft schaut, einen geistesabwesenden Eindruck. Wenn eine Kreissäge im Werkgelände ein unangenehmes Geräusch verursacht, sagt er: «Der Tangens des Schneidezahns müsste verringert werden.»
    Sykow ist ein äußerlich unscheinbarer Mann, der in der Lagerhaft den Schlussstrich seines recht turbulenten Lebens sieht. «Schaljapin», sagt er, «ist tot, aber seine Stimme lebt – Sykow lebt, aber seine Stimme ist tot.» Er ist ein ehemaliger besprisorni (Verwahrloster) und kann hanebüchene Geschichten über den Bürgerkrieg und die ersten Jahre der NÖP erzählen. Damals wurde er aufgegriffen und kam in Makarenkos berühmte Kommune nach Bolschewo. Wenn er über diese Zeit berichtet, leuchten seine sonst stumpfen Augen. Offenbar war er ein Lieblingsschüler des Meisters, der ihn als Student an das Institut für Verkehrswege delegierte. Nach seinem Diplomabschluss wurde er den sowjetischen Militärberatern bei Tschiang Kai-shek zugeteilt. Nach dem Rückzug der Berater wurde er an die Baikal-Amur-Magistrale (BAM) versetzt, also an die zweite Transsibirische Bahn, wo er bald zum Chefingenieur (oder Stellvertretenden Chefingenieur) aufrückte. Über diesen Jahrhundertbau, der nach dem Zweiten Weltkrieg hochgejubelt wird, erfahre ich von Sykow eine Menge. Zum ersten Mal höre ich, dass die BAM schon unter dem Zaren, und zwar von dem hervorragenden Ingenieur und späteren Schriftsteller Garin-Michailowski, projektiert wurde und sich die sowjetischen Erkundungstrupps genau an die seinerzeit festgelegte Trasse hielten. Er erzählt, dass er im Sommer 1942, also ein Jahr nach Kriegsbeginn, mit einem Trupp von Projektanten in der Nähe des Oljokmas, eines Nebenflusses der Lena, auf eine völlig abgesonderte Gruppe von Altgläubigen stieß, die nicht einmal wussten, dass Krieg war. Dort wurde alles von einem Ältesten, einem äußerst selbstbewussten Mann mit Prophetenbart, bestimmt. Im Übrigen herrschten Inzucht und Naturalwirtschaft. Nur einmal im Jahr ging dieser Älteste mit einem Gehilfen nach Blagoweschtensk, um Pelze gegen Munition und Salz einzutauschen. Als Sykow mit seinen Eisenbahntechnikern dort aufkreuzte, wurden sie von den Altgläubigen feindselig empfangen (durften, da sie unrein waren, nur unterhalb der kleinen Siedlung Wasser aus dem vorbeifließenden Bach schöpfen), aber nach dem Verlauf der künftigen Bahnlinie ausgefragt. Als er ein Jahr später an dieselbe Stelle kam, waren die Sektierer verschwunden. Sie hatten alles, was brauchbar war (Ziegel, Ofenklappen, Fenster u.   a.), mitgenommen, sodass nur die verödeten Wände der Häuser geblieben waren. Sykow berichtet auch, dass die Bahn bis zur Station Sima (also südlich der eigentlichen Transsibirischen Eisenbahn) schon vor dem Krieg fertig gewesen war, dann jedoch wieder abgerissen wurde, weil man den Stahl der Schienen für die Herstellung von Kriegsgerät brauchte.
    Wie willkürlich Straftaten von den Gerichten als «konterrevolutionäre Propaganda» gewertet wurden, wird am Beispiel Sawwenkows deutlich, eines

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