Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
greife ich auch zu Marx und Engels. In der Bibliothek ist sogar die alte, in Berlin und Wien verlegte, Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) vorhanden. Ein paar Jahre später – um 1950 – erklärt mir die Bibliothekarin allerdings, ihr Vorgesetzter habe verfügt, die Marx-Engels-Bände, die ohnehin niemand lesen könne und von denen man nicht genau wisse, was darin stehe, zu verbrennen (!).
Unmittelbar nach unserem Umzug müssen wir uns zum Essen noch in der Kantine einfinden, doch sehr bald erhalten wir, da wir ja im Lager beschäftigt sind, den offiziellen pajok , die Trockenverpflegung, die meist – vom Brot abgesehen – nur aus einer einzigen Lebensmittelsorte besteht. Dann muss einer von uns auf den Markt gehen, den Stockfisch, das Milchpulver oder die Grütze verscherbeln und für den Erlös die Lebensmittel besorgen, die wir brauchen. So verkaufe ich einmal einen ganzen Sack Fisch (unsere Monatsration für drei Personen), erst für 25 Rubel das Stück, dann – als die Hausfrauen schon die größten herausgesucht haben – für 20 und 15 Rubel, bis ich die mickrigsten am Ende für fünf Rubel abgebe.
Gelegentlich kreuzt auch meine Freundin Lieschen bei mir auf. Als sie jedoch auf die 170 Kilometer entfernte Kondinka versetzt wird, ist es mit ihren regelmäßigen Besuchen vorbei. Ich bin nur ein einziges Mal dort, fahre 50 Kilometer mit dem Lastkahn und bewältige die restlichen 120 Kilometer zu Fuß, werde von ihr sehr lieb empfangen, erfahre aber auf dem Rückweg, dass sie, die Lebenshungrige, auf der Kondinka eine Liaison mit dem dortigen techruk angefangen hat. Ich bin verletzt und stelle sie zur Rede, als sie das nächste Mal in Soswa auftaucht. Eigentlich hätte ich ihr verzeihen müssen – aber dafür bin ich noch zu jung.
Nachdem wir in unsere neue Wohnung eingezogen sind, lerne ich auch Menschen außerhalb des Lagers kennen, präziser gesagt, Leute, die im Lager gesessen haben, nach Verbüßung ihrer Strafe jedoch in Soswa geblieben sind, weil sie «draußen» als Vorbestrafte allerlei Schikanen ausgesetzt wären. In größeren Städten dürfen sie ohnehin nicht wohnen, verantwortliche Posten werden ihnen nicht überlassen, und das Misstrauen der neuen Umgebung wäre immer präsent. Hier werden die vermeintlichen Volksfeinde, die sich in der Arbeit bewährt und oft sie bemutternde Frauen gefunden haben, als normale Bürger akzeptiert.
Die herausragendste Gestalt unter den ehemaligen Lagerinsassen ist Aschat Bastjatowitsch Bidshejew, ein geistreicher, eigenwilliger und von den Frauen umschwärmter Mann zwischen 50 und 60 mit tiefschwarzen Augenbrauen und buschiger Silbermähne. Bidshejew ist Karatschajewer, gehört also einem kleinen kaukasischen Bergvölkchen an, bei dem zur Zarenzeit noch Blutrache und Matriarchat herrschten. In seiner Kindheit war seine Ururgroßmutter Stammesälteste. Sie mochte den aufgeweckten Jungen und beschloss seinem Wunsch stattzugeben und ihn in Moskau studieren zu lassen. Bidshejew, der übrigens zwölf oder 15 (zum Teil sehr unterschiedliche) kaukasische Sprachen beherrscht und in der Jugend Lermontows «Ein Held unserer Zeit» übersetzt hat, erwies sich als hochbegabt und wurde nach dem Studium als angehender Chirurg Assistenzarzt bei Botkin, dem Gott der russischen Medizin. Mit einigen damals sensationellen Operationen machte er sich einen Namen und wurde ins Kremlkrankenhaus berufen. In einem Geheimprozess im Zusammenhang mit der Affäre Pletnjow wurde er aber zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt: Professor Pletnjow war im dritten Moskauer Schauprozess 1938 wegen «Begünstigung» der Ermordung von Kuibyschew, Menshinski und Maxim Gorki zu 25 Jahren verurteilt worden. Als ich Bidshejew einmal vorsichtig frage, was es mit dem Tode von Kuibyschew und der anderen auf sich habe, winkt er verächtlich ab: «Frag nicht nach den Verbrechen, sondern lieber nach den Untersuchungsmethoden.»
Bidshejew wird ausnahmslos von allen in Soswa als eine herausragende Persönlichkeit verehrt. Selbst die geizigen Marktweiber behandeln ihn, als wäre er nicht von dieser Welt. Wenn er sie fragt, wie viel ein Glas Walderdbeeren kostet, wehren sie schamhaft ab: «Aber für Sie doch nicht, Doktor! Nehmen Sie nur das Glas, ich schenke es Ihnen!» Mehrmals habe ich erlebt, wie Bidshejew im Kino vergeblich eine Eintrittskarte zu lösen versuchte.
Über sich selbst sagt Bidshejew – halb im Spaß, halb ernst: «Außergewöhnliche Chirurgen gibt es derzeit nur drei auf der Welt. Einer
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