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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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unfachmännisch abgefasst sind. Nicht so Chalizkis Eingabe. Sie besticht durch wissenschaftliche Wortwahl und eine Unmenge von Formeln, die die Soswaer Chefs zwar nicht verstehen, von denen sie jedoch beeindruckt sind. So leiten sie das Gesuch an das Moskauer Innenministerium weiter. Von da geht es ans Verteidigungsministerium, wo man offenbar auch nicht recht weiß, wie man mit Chalizkis Berechnungen umgehen soll. Jedenfalls ergeht eine Weisung des Innenministers, dem Erfinder optimale Arbeitsmöglichkeiten einzuräumen. Daraufhin erhält Chalizki in einer Ecke unseres Büros einen Schreibtisch, um den gewissermaßen ein «Bannkreis» gezogen wird – keiner der anderen Mitarbeiter (die sind ja alle «Konterrevolutionäre!») darf an ihn herantreten. Dort träumt der unheimliche Patriot vor sich hin, verschwindet mitunter halbe Tage in der Tischlerei nebenan, wo er seltsame Modelle anfertigt, notiert ab und zu mal etwas in einen Schreibblock, den er bei Feierabend sorgfältig in seiner Tasche verbirgt.
    Mir gegenüber gibt Chalizki die Distanz, die er zu anderen wahrt, teilweise auf. Er denkt sich knifflige Aufgaben aus, die er mir vorlegt, und feixt, wenn ich sie nicht zu lösen vermag. Außerdem bringt er mir Tricks in der Mnemotechnik bei, mit denen ich noch nach Jahrzehnten die Leute verblüffe.
    Nach anderthalb Jahren teilt das Verteidigungsministerium dem Innenminister und dieser der Lagerverwaltung mit, dass die Chalizki’sche Erfindung bereits anderswo entwickelt und erprobt worden sei. Daraufhin verschwindet der düstere Mann aus unserem Büro. Doch nicht für lange. Flugs hat er nämlich eine andere Erfindung in petto, reicht wiederum ein Gesuch ein und erlangt seine zweite Freistellung. Als ich in die DDR ausreise, brütet (oder simuliert?) er abermals an seinem abgeschirmten Schreibtisch in einer Ecke des Projektierungsbüros.
    Da sich unser Büro nach einigen Umzügen in der Werkzone etabliert, ergeben sich auch Kontakte mit den dort an verschiedenen Stellen arbeitenden Sträflingen. Erwähnen will ich hier nur Viktor (Jewgeniewitsch) Görzen, einen beklagenswerten jungen Sowjetdeutschen, der in der Tischlerei ausgelernt hat und von Zeit zu Zeit sauber gearbeitete Holzkästchen oder andere Geschenke zum Kauf anbietet. Geboren wurde er 1936 als Sohn eines zwei Jahre später in Stawropol als «Volksfeind» erschossenen Offiziers der Roten Armee. Anzunehmen ist, dass sich seine verbitterte Mutter zumindest nicht widersetzte, als sie mit ihm drei Jahre später von den bis in den Nordkaukasus vorgedrungenen Nazitruppen als Volksdeutsche «heim ins Reich» gebracht wurde. Mutter und Sohn kamen in ein Auffanglager nach Lodz (damals Litzmannstadt) und dann, da sie als «vollwertige Arier» eingestuft wurden, weiter in die Provinz Brandenburg. Vitja ging in Magdeburg zur Schule, wurde Pimpf, bewunderte als kleiner Junge die SS. Nach der Zerschlagung des Dritten Reiches setzte die sowjetische Kommandantur seine Mutter, weil sie Russisch konnte, in dem kleinen Ort Paretz als Bürgermeisterin ein. Da aber bald ruchbar wird, dass sie aus der Sowjetunion stammt, werden sie und ihr zehnjähriger (!) Sohn verhaftet und wegen «Vaterlandsverrats» zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Nachdem Vitja neun Jahre abgesessen hat, wird er freigelassen, «weil man nun plötzlich feststellt, dass er als Minderjähriger gar nicht hätte verurteilt werden dürfen». Nun holt er die Schule nach, studiert in Swerdlowsk Medizin und heiratet eine zehn oder zwölf Jahre ältere Frau. Er entwickelt sich zum Herzspezialisten, bekommt eine Oberarztstelle in Kursk, behandelt dort den infarktgefährdeten Ersten Gebietsparteisekretär, der ihm zu einer Wohnung in einem Neubauviertel, einer Datsche und einer Kaufgenehmigung für ein Auto verhilft.
    Sobald es möglich wird, besucht Vitja, der von allem Deutschen begeistert bleibt, die DDR, trifft sich jedes Jahr mit alten Kameraden aus der Magdeburger Schule und zieht schließlich (während der Wende) erst nach Genthin und dann nach Berlin um. Er wird unter ziemlich entwürdigenden Bedingungen in einem Westberliner Krankenhaus angestellt, sein Zeitvertreib besteht fortan in Wehklagen über seine Krankheiten und seinen Ziehsohn. Ich habe ihn mehrmals besucht, es dann aber aufgegeben und weiß nicht, was er mittlerweile tut.

TEIL IV • DIE EWIGKEIT

UNTAUGLICHE FREIHEIT
    Während meines ersten Jahres im Projektierungsbüro wird das zu Beginn des Krieges über die Deutschen verhängte Verdikt

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