Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
Vom Netzwerk:
unscheinbaren Mannes, der angeblich an einem Mord beteiligt war. Sawwenkow war während des Krieges Bordmechaniker und Navigator eines Jagdflugzeuges und hatte mit dem Piloten der Maschine manche Luftschlacht bestanden. Als sie kurz nach Kriegsende auf einen Fliegerhorst im Süden der Ukraine dienten, waren sie zu Stammgästen eines anrüchigen Etablissements geworden und hatten dort im Suff zwei Milizionäre, die ihnen bei den «leichten Mädchen» in die Quere gekommen waren, kurzerhand erschossen. Der Pilot fuhr schnurstracks zum Horst zurück, setzte sich in sein Flugzeug und entwischte über das Schwarze Meer in die Türkei. Sawwenkow, der wohl noch mehr getrunken hatte, blieb am Tatort zurück und wurde verhaftet. Da die Damen aussagten, dass nur der Pilot geschossen hätte, die Fahnenflucht des Piloten aber in den Gerichtsakten nicht zugegeben werden durfte, verurteilte man Sawwenkow einfach nach Artikel 58, Absatz 10, also wegen «konterrevolutionärer Propaganda», zu zehn Jahren Lagerhaft.
    Andere «Politische» sitzen, weil sie einen antisowjetischen Witz erzählt haben, wie der als Zeichner beschäftigte Moskauer Taxichauffeur Kabanow oder wegen der Zugehörigkeit zu einer religiösen Sekte, wie der Ingenieur Wolobujew. Er ist dem allgemeinen Gespött ausgesetzt, fühlt sich aber gerade deshalb zum Missionar und Märtyrer berufen, doziert bei den unmöglichsten Gelegenheiten im Predigerton über das allerorts herrschende Sündenbabel und nimmt alle Schikanen des «Antichrist» (insbesondere die häufigen Karzeraufenthalte) demütig an, baut er doch darauf, im Himmel für seine Leiden belohnt zu werden.
    Selbstverständlich gibt es unter den Politischen auch schmierige Typen, ehemalige Betriebsdirektoren und Werkleiter, wie etwa den sich überall anbiedernden Gurewitsch oder den Zuträger Petrenko. Nicht so richtig schlau wird man aus einem mit allen Wassern gewaschenen Ukrainer. Er heißt Kiko, ist erst 40 und hat sich einen langen Bart zugelegt, um als alter Herr zu erscheinen. Zurückhaltend gibt sich eine Ingenieurin, Polina Antonowna Siwizkaja, die ihre Strafe – ebenfalls zehn Jahre – wegen einer Beziehung zu einem Wehrmachtssoldaten verbüßt.
    Eine besondere Kategorie unter den Politischen stellen die litauischen Intellektuellen dar, die mit einem Wilnaer Sträflingstransport ins Lager gekommen sind. Ihrer gibt es in unserem Büro drei: den gescheiten Kownoer Juden Chasanas, den Architekten Jankauskas, der ironisch poretz (Großbürger) genannt wird, und Kasimir Matwejewitsch Klimauskas. Alle drei erleben übrigens 1950 das Ende ihrer Haftzeit.
    Chasanas gleicht einem Fisch im Wasser – er gehört zu den Menschen, die nicht untergehen. In vielen Ländern der Erde hat er Verwandte, die ihm ständig Pakete schicken, sodass er dauernd damit beschäftigt ist, teuer verpackte (allerdings von den Wachsoldaten aufgeschlitzte) Waren zu verkaufen, um die Zollgebühren aufzubringen. Mit unbeteiligter Miene, fast verbindlich, spricht er die einfachsten und doch unerfreulichsten Wahrheiten aus. «Große Völker», sagt er beispielsweise, «begehen große Verbrechen, kleine Völker nur kleine.» Als der oberste Chef, Wassin, einmal befiehlt, einen schweren Traktor vom Typ Stalinez 60 über das Eis des Flusses zu bugsieren, zieht Chasanas, der hinter ihm steht, seinen Rechenschieber aus der Tasche, liest auf ihm etwas ab und sagt: «Bürger Oberst, auf der Strömungsseite ist das Eis noch zu dünn, der Traktor bricht ein.» Wassin zischt ihn nur an, ohne sich umzudrehen, und presst, als der Traktor bereits zwei Drittel der Strecke zurückgelegt hat, ein verächtliches «Ach, diese Ingenieure …» zwischen den Zähnen hervor. Aber gerade in diesem Moment kracht das Eis, der Traktor bäumt sich auf, kippt zur Seite und geht im brodelnden Wasser unter. Der Traktorist, der verloren ist, taucht noch ein- oder zweimal auf und versinkt in den eisigen Fluten. Unbeeindruckt von dessen Schicksal schaut Wassin wütend auf das Wasserloch und wendet sich an seinen Stellvertreter: «Eine Brigade anfordern! Den Stalinez müssen wir rausholen.» Chasanas schiebt die Skalen seines Rechenschiebers wieder hin und zurück und sagt: «Bürger Oberst, das rentiert sich nicht. Der Einsatz der Brigade kostet 1,4-mal mehr als der Anschaffungspreis des Traktors.»
    Kurz vor seiner Entlassung wird Chasanas von irgendwelchen Moskauer Instanzen ein Arbeitsplatz in Krasnojarsk zugesichert. Das grenzt an ein Wunder, denn die nach

Weitere Kostenlose Bücher