Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
IN-JAS, bei dem man nur schriftliche Belegarbeiten einsenden, also nie persönlich erscheinen muss, für einen Englisch-Kurs, danach lasse ich mich sogar noch für einen Französisch-Kurs immatrikulieren, den ich aber aus Gründen, die noch zu schildern sind, abbreche.
Schon während des Studiums bin ich von der alten Woroschilowa, die mein Zimmer an eine zugereiste Verwandte vermieten will, zu Klawdija Matwejewna Jeremejewa gezogen. Das Zimmer dort ist für Soswaer Verhältnisse geradezu luxuriös – nicht zu klein, mit einer richtigen Tür (!), einem ordentlichen Bett, Tisch und zwei Stühlen.
Die «Jeremeicha», wie sie allgemein genannt wird, ist eine tüchtige russische Bauersfrau, die das Glück hatte, nicht den Kulaken zugerechnet zu werden. Ihr Haus und die angebauten Stallungen sind solide, die Zimmer sauber. Alles, was sie tut, ist durchdacht. Sie meditiert ständig über die eigene Rechtschaffenheit, versteht es aber, dem Hauptkassierer der im Bau befindlichen Eisenbahnlinie Soswa – Alapajewsk, der einmal im Monat bei ihr übernachtet, eine beträchtliche Summe abzuknöpfen. In ihrem Garten pflanzt sie Kartoffeln und Zwiebeln. Im Frühjahr, wenn die Preise am höchsten sind, verkauft sie die Zwiebeln auf dem Markt im Rayonzentrum. Bis zu ihrer alljährlichen Fahrt nach Serow, wo sie – für alle Fälle – auch mal beim Popen vorbeigeht und ihm die Hand küsst, hängen die Zwiebeln in langen Zöpfen in der Küche – sehr malerisch. Sie hält eine Kuh und ein Schwein, das sie liebevoll krault. Als ich sie frage, ob es ihr nicht leidtue, es zu schlachten, sagt sie: «Wieso, zuerst füttere ich es, nachher füttert es mich, wir bleiben einander nichts schuldig!»
Über ihren Mann, der an der Front gefallen ist, spricht sie emotionslos: «Er taugte sowieso nicht viel.» Sie hat drei Töchter, eine ist in Chabarowsk verheiratet, eine lebt in der Ukraine, und die jüngste, Tatjana, studiert in Moskau Medizin. Klawdija Matwejewna möchte unbedingt, dass Tanja nach Abschluss des Studiums nach Soswa geschickt wird. Da sie Analphabetin ist, schreibe ich ihr die entsprechenden Gesuche an Ministerien und sonstige Behörden, dabei immer herausstreichend, dass sie – in Wahrheit eine stämmige, vitale Frau – die dahinsiechende Witwe eines Kriegsveteranen wäre. «Gut hast du das hingekriegt», sagt sie, wenn ich ihr meine Eingaben an Minister oder Hauptabteilungsleiter vorlese. Meinen Schreibereien ist schließlich Erfolg beschieden – Tanja wird, als es so weit ist, als Kinderärztin an die Soswaer Poliklinik geschickt.
Überhaupt scheint mich die Jeremeicha zu mögen. Meinen Namen, sagt sie, habe sie auf Anhieb behalten: Alwof! Da ich studiert bin, nicht trinke und auch nicht den Eindruck mache, als könnte ich eine Frau verprügeln, sieht sie in mir sogar schon den künftigen Schwiegersohn. Obwohl Tanja recht zurückhaltend ist, scheint sie den Plänen der Mama nicht abgeneigt. Jedenfalls legt sie sich, obwohl sie sonst in der Wohnstube schläft, als die Mama mal wieder in Serow ist, dürftig bekleidet aufs mütterliche Bett in der Küche. Ich schleiche mich auf Zehenspitzen vorbei.
Inzwischen geht das gleichförmige Leben in Soswa weiter. Alle 14 Tage hört man von Morden und Raubüberfällen, regelmäßig steht auf dem Friedhof ein neues Kreuz mit einer ungelenken Beschriftung, die besagt, hier ruhe eine unbekannte Person, die dann und dann am Bahnübergang tot aufgefunden wurde. Das Personalkarussell in der Lagerverwaltung dreht sich weiter …
Mich kümmern diese Veränderungen jedoch wenig. Zuerst bin ich mit meinem Studium beschäftigt, und auch danach verwende ich den größten Teil meiner Freizeit darauf, die Lücken in meinen Literaturkenntnissen zu schließen. Allabendlich lese ich, auf meinem Bett ausgestreckt, bis tief in die Nacht. Einzelne Aussprüche und Aphorismen schreibe ich in ein dickes Diarium, das sich bis heute erhalten hat. Außerdem fertige ich Konjugations- und Deklinationstabellen in verschiedenen Sprachen an, schreibe einen Roman, übersetze Gedichte aus den vier Sprachen, die ich mehr oder weniger beherrsche: Deutsch, Russisch, Latein, Englisch. Ich wage mich sogar an die ausgeklügelte Kunst der Alliteration, bei der alle betonten Silben einer Verszeile mit denselben Konsonanten beginnen. Kurzum: Insgeheim hoffe ich, dass ich bald nach Deutschland ausreisen kann, und bemühe mich, nicht in der Geistlosigkeit meiner Umgebung zu versacken. Diese Hoffnung wird durch ein
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