Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
sich sogar zu seiner Rede. Doch die Rede ist kurz. Seine Worte habe ich mir genau gemerkt:
«Alle mal herhören! Ihr seid zu Anfang des Krieges aus euren Heimatorten ausgesiedelt worden. Damals war keine Zeit, um über das Warum und Weshalb eurer Aussiedlung nachzudenken. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, darüber nachzudenken. Trotzdem kommen manche von euch noch mit Fragen, Bittschriften und Gesuchen. Um ein für alle Mal eine Antwort darauf zu geben, hat der Ministerrat beschlossen, dass ihr auf ewige Zeit dort bleibt, wo ihr nunmehr seid. Klarer Fall … ihr werdet einer Kommandantur unterstellt. Kommandant ist Hauptmann Anastassenko, der hier neben mir sitzt. Nach der Versammlung haben sich alle bei ihm zu melden. Zimmer Nummer Sowieso im Hauptgebäude. Da liegt auch der Beschluss des Ministerrats aus … So, das war’s. Oder gibt es Fragen?»
Die Stille, die sich nach dieser Eröffnung im Versammlungsraum ausbreitet, ist beklemmend. Der Oberst, immer noch stehend, lässt seinen Blick über die Anwesenden schweifen und setzt sich dann zufrieden hin. Galusin will die Versammlung schon auflösen, doch da wird wider Erwarten eine Frage gestellt. Danach eine zweite und schließlich eine dritte.
Zunächst will ein Mann wissen, was denn nun mit seiner Sippe geschehe, seine Kinder seien in Kasachstan, also im ersten Aussiedlungsgebiet, seine Frau habe man in eine Werkkolonne ins Altai-Gebiet mobilisiert, wo sie nun, dem zweiten Aussiedlungsgebiet, ebenfalls auf ewige Zeiten verbannt sei. Er selbst befinde sich im dritten Aussiedlungsgebiet. Ob man, fragt er, die Familien nicht wenigstens zusammenführen könne?
Der Oberst antwortet, dass eine solche Möglichkeit «selbstverständlich» bestehe. Man brauche nur ein entsprechendes Gesuch an die Kommandantur zu richten, diese werde es an die zuständigen Stellen zwecks Überprüfung weiterleiten. Überhaupt sollen wir uns mit allen Anliegen an den Kommandanten wenden, dem es ja obliege, sich aller Sorgen der ausgesiedelten Bürger anzunehmen.
Vorgreifend sei hier gesagt, dass die nächsten Jahre jedoch beweisen werden, dass die Behörden oft mehr auf die «Fortsetzung der Trennung» als auf die Zusammenführung der deutschen Familien bedacht zu sein scheinen. Anträge auf Familienzusammenführung müssen schriftlich, natürlich in Russisch und mitunter mehrmals eingereicht werden, und die Bearbeitung dauert in der Regel mehrere Monate oder Jahre. Oft werden die Gesuche mit der Floskel abgelehnt, dass es «zurzeit nicht möglich» sei, der Eingabe stattzugeben. Dies erfolgt, wie es der sowjetischen Rechtspraxis entspricht, ohne jede Begründung. An dieser Gepflogenheit ändert sich übrigens auch nach Stalins Tod wenig, sodass nur die Hartnäckigsten die Vereinigung mit ihrer Familie erreichen – falls sie sich nicht bereits von ihren Ehepartnern, zu denen sie oft nicht einmal brieflichen Kontakt haben, entfremdet und neue Bindungen geknüpft haben. Da aber in der neuen Umgebung im Allgemeinen ausschließlich russische Partner zur Verfügung stehen, werden auf diese Weise nicht nur familiäre Bindungen zerstört, sondern auch Völkerschaften aufgelöst. Während die alten, nicht mehr zeugungsfähigen Menschen aussterben, wird in den neuen Partnerschaften und mit den daraus hervorgehenden Kindern Russisch gesprochen. Die Deportierten, Ausgesiedelten, Verbannten verlieren ihre nationale Identität. Auf diese Weise findet ein schleichender Genozid statt, was vermutlich dem Kalkül der Machthaber entspricht.
Erst 1964, also 23 Jahre nach der Aussiedlung und 16 Jahre nach der «Verbannung auf ewige Zeiten», erlässt das Präsidium des Obersten Sowjets eine Verordnung, durch die die Deutschen – allerdings nur teilweise – rehabilitiert werden. Da dieser Ukas skandalöserweise nicht einmal den unmittelbar Betroffenen – also den Verbannten – zur Kenntnis gebracht wird, kopiere ich ihn aus den Vedomosti Verchovnogo Sowjeta und verschicke ihn in etlichen Exemplaren an meine zurückgebliebenen Bekannten in Soswa. Darin heißt es, das Leben habe bewiesen, dass die Massenbeschuldigungen der deutschen Sowjetbürger nicht gerechtfertigt gewesen seien.
Bemerkenswert an diesem erst nach dem Sturz Chruschtschows (!) verabschiedeten Erlass ist, dass er ausdrücklich nur jenen Teil des Erlasses von 1941 zurücknimmt, in dem die Sowjetdeutschen pauschal der aktiven Unterstützung für Hitlerdeutschland beschuldigt wurden. Anders gesagt, die die Verfassungsnormen
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