Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
auch bei der anderen Antwort getan hätte) triumphierend an die Kommissionsmitglieder wendet und sagt: «Nun ja, das war von Anfang an klar, der Prüfling ist durchgefallen.» Das ist aber seinen Kollegen in der Kommission doch zu starker Tobak. Später berichtet mir Solomon Grigoriewitsch, dass es hinter verschlossenen Türen eine erhitzte Aussprache gab, in der es nicht etwa um meine Antwort, sondern darum ging, ob man einem Deutschen zum Diplom eines Geschichtslehrers (eines Erziehers der Jugend!) verhelfen solle.
Meine Teilnahme am Staatsexamen hat indes eine Vorgeschichte. Während ich vorher meine Prüfungstermine immer selbst irgendwie hinbiegen konnte, muss ich nun zu einem festgesetzten Tag in der Uni erscheinen. Rechtzeitig versuche ich beim stellvertretenden Lagerchef Galusin auszuloten, ob er mich für ein paar Tage zum Staatsexamen beurlauben würde. Er blickt mich verdutzt an und sagt: «Wir sind hier ein Forstlager. Wir brauchen keine Klugscheißer.»
Kurze Zeit später werde ich von Auser, einem «Arbeitsmobilisierten», der für Galusin einen exklusiven Radioapparat gebaut hat, gebeten, die Skala für diesen Empfänger zu zeichnen. Ich sage: «Nein, das tue ich nicht.» Auser ist baff: «Was soll ich denn Galusin sagen?» «Sag ihm einfach, der Ruge will die Skala nicht zeichnen.»
Wie erwartet, werde ich daraufhin zu Galusin bestellt. Er gibt sich konziliant und fragt: «Was höre ich da? Du willst mir einen kleinen Freundschaftsdienst verweigern?» Ich erinnere ihn an meine Bitte und sage, dass ich meine Arbeit, so hoffe ich wenigstens, ordentlich erledige, für Freundschaftsdienste aber nur bei Gegenseitigkeit zur Verfügung stehe. So etwas hat er von einem wie mir noch nicht gehört. Aber die Zeiten haben sich ein wenig geändert, immerhin schreiben wir das Jahr 1948. Der stellvertretende Lagerchef bitte mich, Platz zu nehmen, und fragt mich über mein Studium aus. Dann steht er auf und sagt: «Also abgemacht, du zeichnest mir jetzt diese Skala, und ich bewillige dir deinen Diplom-Urlaub.» Diese Abmachung hat er tatsächlich eingehalten.
Auf das Staatsexamen – sowohl auf das mündliche als auch auf das schriftliche – habe ich mich gründlich vorbereitet. Anfangs wollte ich für meine Diplomarbeit ein möglichst fernes Thema wählen: einen Vergleich der Wirtschaftsstrukturen des vorkolumbianischen Amerika mit denen des ostasiatischen Raumes, doch zu dieser Thematik gibt es in Swerdlowsk weder Fachleute und Lehrveranstaltungen noch ausreichend Literatur. So weiche ich auf das europäische Mittelalter aus und werde – wieder mal – in unwahrscheinlicher Weise vom Zufall begünstigt. Nach Swerdlowsk ist kriegsbedingt die Bibliothek der Odessaer Heimatkundlichen Gesellschaft ausgelagert worden. Hier entdecke ich einige dicke Bände mit den Statuten der genuesischen Kolonie Kaffa auf der Krim und der venezianischen Niederlassung Tana in der Donmündung. Alles lateinisch, aber das macht mir – dank meines Krichazki – nichts aus.
Die Bände über Kaffa und Tana enthalten massenhaft Angaben über Schiffsverbindungen, Zünfte, Märkte, gehandelte Produkte, Preise etc. sodass ich eine auf Originalquellen gestützte Arbeit über den «Schwarzmeerhandel Genuas und Venedigs im 14. und 15. Jahrhundert» vorlegen kann. Da ich in der Bibliothek der Odessaer Gesellschaft sowie in den ausgelagerten Leningrader Beständen in Soswa ausreichend ergänzende Literatur finde, entsteht schließlich eine durchaus passable Examensarbeit. Für ihre Qualität spricht, dass Diwinski (der Dozent, bei dem ich das Examen zu den Westslawen abgelegt habe) meine Arbeit mit allen Quellen plagiiert und sie als Doktorarbeit (in der Sowjetunion: Kandidaten-Arbeit) einreicht.
Diese Examensarbeit verteidige ich erfolgreich am 22. Juni 1948, genau sieben Jahre nach Kriegsbeginn, und erhalte wenige Tage später mein Diplom (das ich übrigens später nie irgendwo vorlegen musste!) und das rhombenförmige Universitätsabzeichen von Swerdlowsk, das ich mir eine Zeitlang ans Revers stecke: Es erfüllt mich mit Genugtuung, einen Hochschulabschluss geschafft zu haben. Vermutlich bin ich der Einzige, dem dies damals unter den Bedingungen der Verbannung gelungen ist.
Zur Feier des Tages kaufe ich mir eine klobige Taschenuhr, habe dabei aber Pech: Buchstäblich am nächsten Tag werden die Preise für Uhren um mehr als 50 Prozent gesenkt.
Meine Studienwut hält noch einige Zeit an. Ich bewerbe mich beim Moskauer Ferninstitut
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