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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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verhöhnende Liquidierung der Autonomen Deutschen Wolgarepublik und folglich auch die Vertreibung ihrer Bewohner werden faktisch als rechtens anerkannt!
    Im Übrigen ist in besagtem Erlass nur von den «Deutschen in der Wolgarepublik» die Rede, während in Wahrheit alle Deutschen, die westlich des Uralgebirges wohnten, nach Osten zwangsumgesiedelt wurden.
    Praktisch bleibt aber auch nach diesem Erlass vom 29. August 1964 die Diskriminierung und die Aussiedlung der Deutschen bestehen, weil Personen, deren Nationalität im Ausweis mit «deutsch» vermerkt ist (angeblich, weil die Behörden vor Ort den Deutschen Unterstützung gewähren sollen), nur in seltenen Ausnahmefällen Zuzugsgenehmigungen in den europäischen Teil der UdSSR erhalten.
    Der zweite Fragesteller, ein ungeschlachter Bauer aus der ehemaligen Wolgarepublik, möchte wissen, was nun aus seinem Haus im heimatlichen Dorf würde, ob er es verkaufen oder vererben könne. Der Oberst antwortet eindeutig: Hinsichtlich des alten Besitzes brauche sich niemand Sorgen zu machen, über ihn sei bereits höheren Ortes verfügt worden. Ergänzend erläutert Hauptmann Anastassenko, dessen Stimme wir nun zum ersten Mal hören, dass der Fragesteller die Ausführungen des Genossen Oberst offenbar nicht verstanden habe. Wir seien nicht lebenslänglich, sondern «auf ewige Zeiten» ausgesiedelt. Das bedeute, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder hier, im Ural, leben müssten. Folglich könne von der Übernahme des früheren Eigentums durch irgendwelche Erben nicht die Rede sein.
    Die dritte Frage wird gar nicht erst beantwortet. Sie lautet schlicht: «Was ist denn der Grund für die ewige Verbannung?» Der Oberst fixiert den Fragesteller und wendet sich dann an den neben ihm sitzenden Anastassenko. «Hauptmann», sagt er so, dass man es im ganzen Saal hört: «Ihre Arbeit wird nicht leicht sein. Das war die Stimme des Klassenfeindes.»
    Ein halbe Stunde später stehen wir Schlange vor der eben erst eingerichteten Kommandantur. Eingelassen werden jeweils drei Mann. Zuerst müssen wir den Personalausweis vorweisen, den wir vor ein paar Monaten bekommen haben. Da hinein stempelt ein Gehilfe Anastassenkos die Worte: «Gültig in der Siedlung Soswa (Rayon Serow, Gebiet Swerdlowsk) und im Umkreis von sieben Kilometern»! Dann wird uns der Text des von Molotow unterzeichneten Beschlusses des Ministerrats der UdSSR vom 26. November 1948 zur Einsicht vorgelegt. Darin heißt es, dass Deutsche, die während des Großen Vaterländischen Krieges in entfernte Gebiete der Sowjetunion ausgesiedelt worden sind, mit 20 Jahren Zwangsarbeit ( katorga ) bestraft werden, wenn sie sich ohne Erlaubnis aus dem ihnen zugewiesenen Siedlungsraum entfernen.
    Mir läuft es beim Lesen kalt über den Rücken. So weit kann die Willkür gar nicht gehen! Aber sie geht. Die erst vor einigen Jahren nach dem zaristischen Vorbild eingerichtete katorga bedeutet «Gefangenschaft in Ketten», im besten Fall in Handschellen, die während der Arbeit abgenommen werden. Die Häftlinge in solchen Lagern führen keinen Namen mehr. Ihr Menschsein ist bis zur letzten Konsequenz ausgelöscht, sie rangieren nur noch als Nummern, als Zähleinheiten, als Tote auf Urlaub. Letztlich bedeutet der Molotow’sche Ukas, dass ich mit dem sicheren Tod rechnen müsste, sollte ich mich bei einem Spaziergang weiter als sieben Kilometer von Soswa entfernen. Außer Zweifel steht nämlich: 20 Jahre katorga kann niemand überstehen.
    Ich bin wie gelähmt. Anastassenko muss mich zweimal mit scharfer Stimme anfahren, ehe ich wieder zu mir komme. Er schiebt mir eine Karteikarte hin, auf der ich mit meiner Unterschrift bescheinigen muss, dass ich den Beschluss des Ministerrats zur Kenntnis genommen habe. Meine Unterschrift, so erklärt mir Anastassenko, müsse ich allmonatlich wiederholen und damit auch meine Anwesenheit bestätigen. Wie die anderen «Arbeitsmobilisierten» werde ich verpflichtet, mich an einem bestimmten Tag (ich glaube, am Sechsten eines jeden Monats) in der Kommandantur zu melden.
    Der Objektivität halber muss gesagt werden, dass mir später kein Fall bekannt geworden ist, in dem der Beschluss des Ministerrates – 20 Jahre katorga – dann tatsächlich angewendet worden wäre. Das ändert jedoch nichts am Wesen der verbrecherischen Nationalitätenpolitik der UdSSR, deren Folgen bis in die Gegenwart hineinreichen.
    Daran wurde ich Ende 1981 erinnert, als ein westdeutscher Fernsehkorrespondent (etwa zur Zeit des

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