Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Postkasten zu werfen – was natürlich streng verboten ist. Kein Wunder, dass unsere ganze Mannschaft nach kurzer Zeit in die so schöne und obendrein freie Kollegin verliebt ist.
Auch mir gefällt sie mehr und mehr. Der Zufall will es, dass ihr der Arbeitsplatz neben mir zugewiesen wird. Gerade als ich anfange, mir ernsthaft darüber Gedanken zu machen, wie ich die Neue wohl außerhalb der Arbeitszeit mal treffen könnte, begegne ich ihr eines Abends auf der Straße. Ich begleite sie zum Klub, wo sie sich zur Gründung einer Theatergruppe verabredet hat. Unsere Unterhaltung wird jedoch so anregend, dass wir, ehe wir uns trennen, noch ein oder zwei Runden um den Häuserblock drehen.
Am 4. Juni – unvergessliches Datum! – erscheint Schtrauchman kurz vor Arbeitsschluss im Büro mit der Mitteilung, dass bis zum nächsten Morgen das Projekt eines Holzstapelplatzes angefertigt werden müsse, weil dessen Abstimmung mit der Eisenbahnverwaltung kurzfristig angesetzt worden ist. Sträflinge kann man zu dieser Arbeit nicht heranziehen, sie sind ja über Nacht eingeschlossen. Taissja Petrowna kann die Arbeit nicht ohne Unterstützung bewältigen. Außerdem ist es unzumutbar, sie in den Nachtstunden allein in der Zone zu lassen. So entscheidet Schtrauchman, dass ich, da ich ja lange genug Zeichenarbeiten ausgeführt habe, ihr zur Seite stehen soll.
Zum Abendessen geht jeder zu sich nach Haus, gegen sieben treffen wir uns wieder im Büro. Nebeneinander arbeiten wir an verschiedenen Stellen der Zeichnung. Gegen zehn verzehren wir schweigend ein kleines Abendbrot, das sie mitgebracht hat. Danach müssen wir Licht machen. Wir arbeiten uns, jeder von seiner Seite aus, in die Mitte der Zeichnung vor. Unsere Hände berühren sich, wir schauen uns erschrocken an.
Gegen zwölf sagt Taja, sie sei todmüde und würde sich gern ein halbes Stündchen hinlegen. «Aber ja», sage ich, sie das letzte Mal siezend, «gehen Sie doch ins Kabinett des Chefs, dort können Sie sich auf der Truhe ausstrecken.» Sie nimmt mir das Versprechen ab, sie in einer halben Stunde zu wecken, und zieht sich zurück.
Eine Stunde nach Mitternacht trete ich in das Zimmer, in dem sie schläft. Ihr Mund ist halb geöffnet, im Ärmelausschnitt kräuseln sich ihre Härchen. Dann wecke ich sie …
Eine halbe Stunde später beugen wir uns wieder über das Projekt des Holzstapelplatzes. Und nach weiteren zwei Stunden – die Sonne ist hier im Norden schon aufgegangen – schreiten wir Hand in Hand durch die menschenleeren Straßen Soswas.
Trotz aller Widernis, trotz der Unfreiheit, der fehlenden beruflichen Befriedigung beginnt für mich eine Zeit des Glücks. Wir treffen uns zunächst heimlich. Wenn Mutter Vera im Sägewerk Nachtschicht hat, gehen wir zu Taja. Hat ihre Mutter Tagschicht, treffen wir uns irgendwo am Ortsrand, streifen zusammen durch Wald und Wiesen. Wir schwimmen im Fluss und lieben uns am menschenleeren Ufer. In Sibirien geht man nicht spazieren. Wer nicht Holz oder Beeren sucht, geht nicht in den Wald. Wir beide sind wohl die Einzigen, die einfach so, ohne Ziel, in die Landschaft hinausziehen.
Sosehr ich Taja zugetan bin, noch zögere ich, mein Schicksal dauerhaft mit ihrem zu verbinden. Das hängt gewiss auch damit zusammen, dass ich mich innerlich noch nicht ganz von meiner früheren Freundin, einer gewissen Anja Chapun, die im Februar 1950 nach Leningrad zu ihren Eltern zurückgekehrt war, gelöst hatte. Demgegenüber drängt Taja, die inzwischen natürlich von der Existenz Anjas erfahren hat, sozusagen auf eine «Festschreibung» der Beziehung. Meine Entscheidung fällt im Frühjahr 1951, als ich für drei Wochen zum Flößen abkommandiert bin.
Flößen ist vielleicht die schwerste Arbeit, die ich je kennengelernt habe, zugleich eine der schönsten. Der schwierigste Teil der Arbeit findet dabei nicht an den großen Strömen Soswa, Losswa, Tawda oder Tura statt, auf denen die Baumstämme ungebündelt schwimmen, sondern an den kleinen Nebenflüssen, die im Sommer oft kaum einen Meter breit sind. Am Oberlauf solcher Flüsschen stapelt man im Winter das frisch geschlagene Holz. Dann legt man bis zu zwei Meter hohe Staudämme aus Strauchwerk und Erde an, in denen sich im Frühjahr bei Schneeschmelze das Wasser sammelt. Sobald ein bestimmter Pegelstand erreicht ist, wird der Damm – meist einmal am Tag – geöffnet. Es entsteht ein riesiger Wasserschwall, das winzige Flüsschen verwandelt sich in einen breiten, brodelnden Fluss, der die
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