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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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genug.
    Taja verbrachte die Kriegsjahre mit einer Kameradin in einer Erdhütte, in der im Frühjahr kniehoch das Wasser stand. Im Vier-Stunden-Rhythmus wechselten die beiden Soldatinnen sich bei der Bewachung einer Flakbatterie ab, die Moskau vor feindlichen Fliegern verteidigen sollte. Sie hatten an einer bestimmten Stelle Posten zu stehen. Das Gewehr auf der Schulter, machten sie soundso viele Schritte in die eine Richtung, soundso viele in die andere, standen eine Weile, begannen ihren Marsch von vorn. Vier Stunden lang Wache, vier Stunden Schlaf, dann wieder Wache – bei Hitze und Kälte, im Regen und Schnee, Tag für Tag, Woche für Woche, vier Jahre lang.
    Als Taja nach dem Kriegsende aus der Armee entlassen wurde, wollte sie gern in Moskau bleiben. Es gelang ihr mit der Unterstützung ehemaliger Vorgesetzter, als Kartenzeichnerin in der Militärhochschule (WSchUOS) unterzukommen. Da die Planstelle eigentlich für einen Offizier vorgesehen war, bekam sie eine Lebensmittelration, die normalerweise für eine Familie gereicht hätte. Taja unterstützte ihre Mutter und Großmutter, verkaufte auch Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt. Es war das erste Mal, dass sie das Leben in vollen Zügen genoss. Sie tat alles, was man in einer Großstadt tut, nahm überdies Schauspielunterricht, spielte mit großem Engagement in einer Laiengruppe und träumte von einer Zukunft auf der Bühne.
    Alles änderte sich jedoch, als sie im Februar 1950 die Nachricht von der schweren Erkrankung sowohl ihrer Mutter als auch ihrer Großmutter erhielt. Als sie nach Soswa eilte, war ihre Großmutter bereits tot, ihre Mutter aber wollte auf keinen Fall allein sein und verfolgte Taja mit der flehentlichen Bitte, bei ihr in Soswa zu bleiben.
    Das Prekäre war, dass ein nur zeitweiliger Aufenthalt in Soswa nicht möglich war. Sobald Taja – und dazu war sie gezwungen – hier eine Arbeitsstelle annahm, musste sie sich in Soswa polizeilich anmelden, womit ihre Moskauer Anmeldung automatisch ungültig wurde und ihr Wohnrecht in der Hauptstadt erlosch. Da es praktisch unmöglich war, dieses Wohnrecht neu zu erwerben, war eine Arbeitsaufnahme in Soswa für Taja gleichbedeutend mit dem lebenslangen Verzicht auf Moskau als Wohnort, auf den hauptstädtischen Lebensstil, auf Freunde und berufliche Hoffnungen. Und doch blieb ihr, wenn sie ihre Mutter nicht im Stich lassen wollte, nichts anderes übrig. In den letzten Apriltagen 1950, als sie finanziell am Ende war, bewarb sie sich als Zeichnerin bei der Bauabteilung der Soswaer Lagerverwaltung – einen anderen Arbeitgeber als die Lagerverwaltung gab es in Soswa kaum.
    Gut erinnere ich mich an jenen grauen Frühlingstag, an dem das Telefon in unserem Büro klingelte und Washezew, der Chef der Bauabteilung, nach Schtrauchman, dem Leiter unseres Büros, fragte. Aber Schtrauchman war gerade nicht da.
    «Gut», sagte Washezew, «dann sag ihm mal Bescheid, dass gleich ein Dämchen ( dewiza ) kommt, die als Zeichnerin arbeiten möchte. Du kannst gleich mal zur Wachbude gehen und sie abholen.»
    Auf meine Frage, wie ich denn das «Dämchen» erkennen würde, lachte er: «Ist nicht zu verfehlen, sieht aus wie ein Papagei – grüner Hut, gelbe Haare, roter Mantel!»
    Wenige Minuten später ging ich hinaus, rauchte eine Zigarette an und beobachtete die Wachbude. Tatsächlich erschien nach einer kleinen Weile eine in dieser Umgebung höchst auffällige, ja fast unwirklich anmutende Person. Sobald sie bemerkte, dass sich ein Mann – meine Wenigkeit – schnurstracks auf sie zubewegte, erschrak sie, hielt inne und wandte sich dann ab. Als ich ihr erklärte, dass ich sozusagen als ihr Begleitschutz gekommen sei, war sie erleichtert.
    Mit Taissja Petrowna zieht eine andere Atmosphäre in unser Büro ein. Wenn sie um neun Uhr, zwei Stunden nach dem Arbeitsbeginn der Sträflinge, in ihrer weitärmeligen Seidenbluse und ihrem bis zu den Knöcheln reichenden, schwarz-weiß gemusterten Rock erscheint, sind keine Mutterflüche mehr zu hören, obwohl sie sonst zum allgemeinen Umgangston gehören. Jeder begrüßt sie mit «Guten Morgen, Taissja Petrowna» und strahlt, wenn sie ihn darum bittet, ihr ein Detail einer Zeichnung zu erklären, die Reißfeder zu schleifen oder einen Radiergummi auszuleihen.
    Dennoch zeigt sie sich in keiner Weise überheblich, bringt hin und wieder selbstgebackene Kekse mit, besorgt auch mal Schnürsenkel oder ein Stück Seife und sagt nicht nein, wenn jemand sie bittet, einen Brief draußen in den

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