Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Breschnew-Besuches in Bonn) von den Sowjetbehörden die Erlaubnis erhielt, in den kasachisch-kirgisischen Siedlungsgebieten der Sowjetdeutschen einen Film zu drehen. Obwohl die Reiseroute des Fernsehteams und die Gesprächspartner des Korrespondenten zweifellos von den Behörden festgelegt waren, um einen möglichst günstigen Eindruck zu erwecken, musste ich feststellen, dass dieser Bericht die Situation weitaus wahrhaftiger schilderte als die Veröffentlichungen in den damaligen DDR-Medien.
Der Film beeindruckte mich nicht zuletzt deshalb so sehr, weil er viele Aufnahmen aus einer Steppensiedlung bei Karaganda enthielt, in der ich meine alte Siedlung Nr. 11 wiederzuerkennen glaubte. Am meisten erschreckte mich der elementare Mangel an Bildung und Kultur. Die Menschen waren desinteressiert gegenüber allem, was sich nur ein paar Kilometer von ihrem Wohnort entfernt abspielte. Obwohl ich eigentlich darüber jauchzen müsste, dass ich mich nicht unter diesen alten Frauen und Männern befinde, stimmte mich die Sendung traurig. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, so musste ich mir sagen, wäre auch ich möglicherweise aus dem Nordural dorthin zurückgekehrt und würde heute unter diesen Menschen leben – oder auch nicht. Sechzigjährige sind dort bereits Greise. Mit 81 wäre ich vermutlich längst tot.
TAJA
Die welthistorischen Eskapaden, von denen die Entstehung und der Zerfall gewaltiger Reiche und das Schicksal von Millionen Menschen abhängen, werden immer von winzigen Zufällen begleitet, die das eine Individuum vernichten, das andere weiterleben lassen. So ist es auch mir ergangen.
Ein ganzes Jahr lang, in dem zu allem Unglück noch die Korrespondenz mit meiner Mutter abbricht, schlage ich mich mit dem Gedanken herum, dass ich nun – 31 Jahre jung – verdammt bin, bis zum Ende meiner Tage in Sibirien zu leben. In dieser Situation treffe ich Taja, die Frau, mit der ich mehr als 40 Jahre zusammenleben werde. Ich habe sie in diesen Aufzeichnungen schon kurz erwähnt, nun will ich nachtragen, wie wir uns kennenlernten und ein Paar wurden.
Taissja Petrowna wurde im August 1924 geboren. Ihre Mutter brachte sie während der Ernte am Rande eines Kornfeldes zur Welt. Bis zu den letzten Wehen arbeitete Vera Iwanowna mit der Sichel, eine knappe Stunde nach der Geburt stand sie wieder auf, um weiterzuarbeiten.
Taja war ein uneheliches Kind. Ihr Vater, Pjotr Muchlin, war ein umherziehender Pferdehändler und höchstwahrscheinlich «Zigeuner». Er wollte Vera heiraten, aber die Mutter, Tajas Großmutter, wollte von dem «schwarzen Teufel» nichts wissen, so wuchs Taja ohne Vater (und ohne Großvater) auf. Neugierig darauf, etwas über die Welt jenseits der Sümpfe und Wälder zu erfahren, knüpfte sie schneller und nachhaltiger Kontakte zu den Ausgesiedelten, die seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in zunehmender Zahl nach Soswa kamen. Sie bewunderte ihre Kleider und Schuhe, half ihnen oft genug, die Sachen gegen Kartoffeln oder andere Lebensmittel einzutauschen, und ließ sich von Moskau, Leningrad oder Kiew erzählen.
Selbstverständlich teilte Taja zunächst die in der Schule vermittelte Sowjet-Euphorie und die Stalin-Verherrlichung. Als Gerüchte umgingen, dass Volksfeinde der auf den Streichholzschachteln abgebildeten Zündflamme die Form von Trotzkis Spitzbart verliehen hätten, sammelten die Schüler und Schülerinnen diesen «geheimen Aufruf zur Konterrevolution» in einer großen Kampagne ein und übergaben die Schachteln dem Schuldirektor.
Drei Monate nach Ausbruch des Krieges meldete sich Taja freiwillig an die Front. Es waren – neben ihrer unbestreitbaren Abenteuerlust – vor allem zwei Motive, die sie zu diesem Schritt veranlassten. Zum einen der Wunsch, endlich einmal dem Soswaer Hungerdasein zu entkommen, zum anderen das Bedürfnis, dem Ruf des bedrängten Vaterlandes zu folgen und für die Heimat, für den Genossen Stalin vorwärtszustürmen, wenn nötig in den Tod.
Das Kreiswehrkommando lehnte die Bewerbung der gerade Siebzehnjährigen ab. Doch Taja erreichte, dass ein Offizier des Einberufungspunktes in ihren Papieren vermerkte, dass sie 18 sei – so wurde sie angenommen. Zu ihrem Glück befand sich in der Kommission, die die Mädchen den einzelnen Truppenteilen zuteilte, ein älterer, grauhaariger Oberst, der ihr den Wunsch, an die Front zu kommen, ausredete: «Die Front ist nichts für Mädchen wie dich.» Er teilte sie zur Verteidigung Moskaus ein, das sei schon schwer
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