Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
gestapelten Hölzer mitreißt. Mit ungeheurem Krach werden die sechs bis acht Meter langen Stämme umhergewirbelt. Dabei geschieht es, dass sie an knorrigen Wurzeln hängen bleiben, sich aufrichten, andere aufhalten, sodass in wenigen Minuten eine ineinander verschachtelte Barriere entsteht. Dann ist der Teufel los. Die Flößer, die im Abstand von 200 oder 300 Metern am Fluss stehen, müssen jetzt in Aktion treten. Sie hetzen, so schnell sie können, zur Havariestelle und versuchen, meist gemeinsam mit drei oder vier ebenfalls herbeigeeilten Kumpels, die anwachsende Barriere zu entflechten.
Diese Arbeit ist in höchstem Grade kraftaufwendig und gefährlich. Es wird in fieberhafter Eile gearbeitet, weil sonst das Flussbett leer ist und die ganze Tagesarbeit zunichtewird. Noch wichtiger als Kraft ist dabei das Können: Unter Hunderten aufgetürmter Stämme muss man jenen herausfinden, der das chaotische Gebilde verklammert. Mit langen Bootshaken zerrt und stemmt man, bis sich die Barrikade plötzlich löst. Dann heißt es zusehen, dass man von den in Bewegung geratenden Stämmen wegkommt.
So arbeitet man beim Flößen eigentlich nur wenige Minuten am Tag – allerdings Minuten, die es in sich haben. Die übrige Zeit steht man entweder wachsam am Ufer oder döst in der primitiven Taiga-Unterkunft vor sich hin. Kein Wunder also, dass ich in jedem Frühjahr am Ufer des Flüsschens Tesma lange und gründlich über Vergangenheit und Gegenwart nachdachte. Und als Taja mir zum 1. Mai mit irgendeinem natschalnik ein Päckchen Piroggen schickt, steht mein Entschluss längst fest.
Am ersten Tag nach dem Flößereinsatz rufe ich sie im Dienst an und bitte sie, sich mit mir in der Mittagspause zu treffen. Da sie wegen dieses Treffens auf das Essen verzichten muss, habe ich im Herd meiner Wirtin aus einem Rest Mehl ein paar Kekse gebacken, die ich in den «Park» von Soswa mitbringe. Dieser Park, ein schäbiges grünes Geviert rund um einen rot gestrichenen Holzobelisken, der an die Gefallenen im Kampf gegen den Admiral Koltschak und die Weiße Armee erinnern soll, befindet sich direkt neben dem Klub der Lagerverwaltung, mitten im Ort, sodass uns jedermann zusammen sehen kann. Aber das spielt nun, da wir fortan zusammenleben würden, keine Rolle mehr.
Nachdem Taja sich auf der Bank niedergelassen und mein Gebäck ausgewickelt hat, frage ich sie ohne lange Vorrede, ob wir zusammenziehen wollen. Zu meiner Verwunderung sagt Taja jedoch, dass sie um Bedenkzeit bitten müsse.
Indes reichen ihre Verstellungskünste nicht lange. Nach einer Minute kann ich ihre Zustimmung in den Augen lesen, nach fünf Minuten ist ihr Jawort gefallen. Zehn Minuten später sind wir schon mitten im Gespräch darüber, wie wir die Möbel in dem Zimmer, das sie mit ihrer Mutter bewohnt, umstellen wollen.
STALINS TOD
Am 4. März 1953 kommt Wassja Kowrishin, ein Freier, völlig aufgelöst ins Büro und ruft: «Eben ist im Radio die Nachricht durchgegeben worden, dass der Genosse Stalin erkrankt ist!»
Eisiges Schweigen schlägt ihm entgegen. Nicht, dass die Mitteilung die Leute nicht interessiert – im Gegenteil. Doch keiner sagt auch nur ein Sterbenswörtchen. Alle beugen sich, Beschäftigung vorschützend, über ihre Entwürfe und Tabellen. Alle wissen: Eine offizielle Mitteilung über Stalins Gesundheitszustand hat es noch nie gegeben.
Kowrishin versucht es noch einmal: «Wenn Stalin sterben sollte – unvorstellbar.» Aber auch darauf antwortet niemand.
Ich nehme eine papirossa und gehe hinaus, setze mich auf die Stufen vor der Tür. Ich inhaliere tief und schaue auf die schneebedeckte Fläche vor mir. Sollte ich doch noch wärmere Gegenden sehen, bedeutende Städte, das Meer?
In einiger Entfernung geht Shora Breitenbücher, ein mit mir befreundeter Röntgentechniker, vorbei. Er winkt mir ermunternd zu und ruft: «Hallo, Wolf! SSSR!» Ich verstehe nicht: SSSR ist die russische Abkürzung für «Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken». Da kommt Shora näher und übersetzt: Smert Stalina spasjot Rossiju – «Der Tod Stalins rettet Russland». Wie schnell sich der Volksmund auf die Nachricht aus dem Radio einstellt!
Von da an läuft im Radio Trauermusik. Als am nächsten oder übernächsten Tag bekanntgegeben wird, dass Stalin gestorben ist, bemächtigt sich der Obrigkeit zunächst eine riesige Unsicherheit. Die Lagerleitung ist wie gelähmt. Niemand weiß, wie man auf das Ableben des Tyrannen reagieren soll. Verängstigt warten sie auf
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