Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
sommerlichen Schneegestöber!) in Swerdlowsk ins Flugzeug, fliege in das subtropische Krasnodar und fahre von dort aus über Armawir-Tuapse nach Sotschi, wo ich zehn Tage am Strand verbringe.
Meine Stimmung dort ist unbeschreiblich. Als freier Bürger miete ich mir für zehn Rubel ein Zimmer, atme die Seeluft. Mich stören weder die grimmigen Wachposten an den zahlreichen Tunneleingängen noch die Schlangen vor den wenigen Restaurants. Ich genieße den Sand, das Meer, den Blick auf den Horizont. Jeden Abend gehe ich zum Ufer und erlebe, wie die Sonne in der schimmernden See versinkt.
Nach einem fast einjährigen Papierkrieg wird Mutter und Hans im Juni 1955 schließlich die Genehmigung erteilt, sich mit uns in Swerdlowsk – natürlich nicht in Soswa – zu treffen. Da es keine Hotelplätze gibt, lässt das NKWD sogar zwei (sicherlich mit Wanzen ausgestattete) Zimmer für uns im einzigen Swerdlowsker Hotel reservieren. Zuerst fahren Taja und ich in die Gebietshauptstadt; Walter und Ira kommen aus mir heute nicht mehr erinnerlichen Gründen zwei Tage später nach und bringen den einjährigen Shenja mit.
Es ist ein seltsames Wiedersehen. Mutter winkt mir aus dem Fenster des soeben aus Moskau eingetroffenen Zuges zu, ich steige in den Waggon und begegne ihr im Gang des Schlafwagens. Natürlich erkenne ich sie, und doch ist sie mir fremd. Sie wirkt, wie soll ich sagen, ausländisch. Keineswegs sieht sie aus wie 60, trägt ein exquisites, hellgraues Kostüm, ein Schleier fällt von ihrem Hütchen über Stirn und Augen, die Hände stecken in zierlichen Handschuhen.
Ich empfinde deutlich, dass mit dieser Begegnung ein gänzlich neuer Abschnitt in meinem, ja unserem Leben beginnt, und möchte Mutter herzlich an mich drücken. Doch eine Umarmung kommt nicht zustande. Vielleicht liegt das an ihrer Zurückhaltung, vielleicht an der für mich ungewohnten deutschen Sprache. Ich schaue zu ihr auf wie zu einer Botin aus einer fremden Welt. Es wird viel Zeit vergehen, bis ich in der Lage bin, mir ein realistisches Bild von ihr zu machen, das nicht immer vorteilhaft sein wird.
Indes deutet sich schon in Swerdlowsk an, dass wir in Grundfragen völlig konträrer Meinung sind. Am ersten Nachmittag, als wir durch die Uralmetropole spazieren und an den großen Teich im Zentrum der Stadt kommen, sage ich mir, dass wir hier kaum abgehört werden können. In einem Moment, als auch Hans uns nicht zuhört, spreche ich aus, was mir seit langem auf dem Herzen liegt: dass Stalin ein Verbrecher und Mörder sei. Da aber hält sich Mutter demonstrativ die Ohren zu und erklärt, dass sie derartige Aussprüche unter keinen Umständen hören wolle. Ich glaube zuerst noch, dass sie einfach nicht mit den Tatsachen vertraut ist, und versuche, ihr etwas von den Dingen mitzuteilen, die ich im Lager erfahren habe, aber das ist, wie ich erst sehr viel später erkenne, gar nicht der Punkt. Mutter hat sich auf Gedeih und Verderb mit der Praxis der kommunistischen Bewegung identifiziert und verschließt ihre Augen vor deren verbrecherischem Charakter.
So werden politische Themen in Swerdlowsk nur selten berührt. Hans und Mutter, die ihre Enttäuschung über die Zustände in der sowjetischen Provinz kaum verbergen können, bemühen sich, uns mit pragmatischen Argumenten zur Übersiedlung in die DDR zu bewegen. Dort sei das Leben leichter zu meistern, ich würde eine Arbeit als Historiker bekommen und Taja erführe als freiwillige Kämpferin gegen den Hitlerfaschismus die ihr gebührenden Ehren. Die Partei, sagt Hans, würde uns in jeder Hinsicht unterstützen.
Von der Gefahr, dass es auch in der DDR, wie schon in Sofia, Budapest und Prag, zu Schauprozessen kommen könnte, wollen Mutter und Hans nichts wissen. Außerdem sind sie bemüht, meine Bedenken wegen des «Vaterlandsverrats» zu zerstreuen. Sie erklären glaubhaft, man habe ihnen im Berliner ZK versichert, dass es feste Vereinbarungen mit den sowjetischen Behörden über die baldige Rückkehr sämtlicher Politemigranten nach Deutschland gebe. Koordinationszentrum bei der Erledigung aller Formalitäten sei das wiederbelebte Rote Kreuz, das engen Kontakt sowohl zu den sowjetischen als auch zu den deutschen Dienststellen unterhalte.
Taja ist bedenkenlos für die Übersiedlung in die DDR. Bei endlos dauernden nächtlichen Zwiegesprächen versucht sie mich davon zu überzeugen, dass unser Sohn Shenja die Chance erhielte, in Europa – nicht im kalten und unwirtlichen Sibirien – aufzuwachsen, dass er
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