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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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wir uns wie alte Bekannte begrüßt hatten, klagte ich ihm mein Leid. Da lachte er und sagte zu meiner grenzenlosen Überraschung, dass er hier Professor sei und meine Immatrikulation gleich in Ordnung bringen werde. Ich folgte ihm in den berühmten roten Salon, wo wir aber von der Sekretärin erfuhren, dass der Rektor nicht mehr im Hause war. So verabredeten wir uns für den folgenden Vormittag.
    Am nächsten Tag kam er aber nicht. Ob auch er sich der zunehmenden nationalistischen Euphorie bewusst war und sich deshalb nicht für mich einsetzen wollte, weiß ich nicht. Jedenfalls wartete ich über eine Stunde, beschloss dann, ihn anzurufen, verwarf den Gedanken aber, als ich keine zwei Kopeken für den Münzautomaten finden konnte. Ich werde eben, sagte ich mir trotzig, ohne Protektion zurechtkommen.
    Als 1935 ein neues Gesetz über die Studienzulassung erlassen wurde, demzufolge für eine Immatrikulation ein Abitur nötig war, rückten meine Träume vom Studium in weite Ferne. Meine Pinselei an der KUNMS erschien mir zunehmend als Vergeudung wertvoller Lebensjahre, selbst in materieller Hinsicht war meine Lage kläglich. Wäre nicht das billige Mittagessen in der KUNMS gewesen, hätte ich mitunter regelrecht gehungert. Aber auch so kam es vor, dass ich abends mit knurrendem Magen ins Bett ging. Nach gut einem Jahr Moskau begann meine aus Deutschland mitgebrachte Garderobe zu verschleißen. Am schlimmsten stand es um mein Schuhwerk. Galoschen, die man in Moskau eigentlich brauchte, konnte ich mir nicht kaufen. Das Geld reichte nicht mal für Turnschuhe, wie die meisten Kollegen sie trugen.
    Meine Zweifel machten mir jedoch am meisten zu schaffen. Ich kam zwar damals mit vielen Menschen zusammen, doch gab es niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Meine Mutter und Hans (ohnehin kaum Gesprächspartner in dieser Sache) wohnten außerhalb Moskaus und kamen nur selten zu Besuch in die Stadt. Vater, der zu dieser Zeit noch Lehrer am «Institut der Roten Professur»* war, rückte wenigstens mal einen 50-Rubel-Schein heraus, war aber ansonsten mit seiner Gerda und seinen eigenen Problemen beschäftigt. Auch seine Stelle war aufgrund des zunehmenden Nationalismus bedroht. Indem ich meine Zweifel und Probleme immer mehr in mich hineinfraß, wurde ich buchstäblich krank. Ich lag nächtelang wach, und meine Grübeleien gipfelten immer in denselben Fragen: Welchen Sinn hat die Existenz der Menschheit, der Einsatz des Einzelnen, wozu lebe ich? Meine Nerven waren schließlich derart strapaziert, dass mich – zum ersten und letzten Mal in meinem Leben – Halluzinationen überkamen. Was damals mit mir vorging, ist mir völlig rätselhaft, ich kann es nicht einmal richtig beschreiben.
    Es muss im Sommer 1935 gewesen sein, als ich mich auf dem Wege zur Arbeit, und zwar in der alten, schmalen Gasse, die von der Soljanka zur Marossejka hinaufführt, plötzlich in einen seltsam unwirklichen Zustand versetzt sah. Alles um mich wurde von einem sanften Leuchten durchtränkt, und ich hörte eine geheimnisvolle Stimme. Die Worte verstand ich nicht, doch wusste ich mit eigenartiger Bestimmtheit, dass mir da von einer Doppelperson, die zugleich ein vor Hunderten von Jahren verstorbener Bojare und Wolfgang Ruge war, meine Zukunft prophezeite. Das Ereignis war schmerzlich und lustvoll zugleich, indem es mir ein unbeschreibliches Gefühl des Auserwähltseins vermittelte. An der einzigen Linksbiegung der Gasse war der Spuk abrupt vorbei. Aber er wiederholte sich am nächsten Tag und am übernächsten, so etwa drei Wochen lang. Jedes Mal versuchte ich, die Prophezeiung zu verstehen. Das ist mir jedoch nicht gelungen. Nach drei Wochen war die Erscheinung vorbei, sie hat mich nie wieder heimgesucht.
    In dieser Zeit spielten die Briefe, die ich ein- oder zweimal wöchentlich von Luta aus Palästina bekam, eine wichtige Rolle. Unbefangen berichtete sie mir, dass sie sich eine neue Schreibmaschine gekauft, 14 Tage in einem Strandhotel an der See verbracht oder originelle Gardinen für ihr Zimmer genäht hatte. Noch immer war das Treueversprechen, das wir uns gegeben hatten, eine Leitlinie meines Lebens. Und doch sah ich, dass die Gefahr, sie zu verlieren, stetig wuchs.
    Zu den Gefahren zählte mein Mangel an Standhaftigkeit. Zu groß waren die Verlockungen, der Erlebnishunger, die Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Und konnte ich sicher sein, dass nicht auch Luta der Versuchung erliegen würde? Abgesehen von den in uns selbst liegenden Gefahren

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