Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Lessing, Weerth, Börne und Büchner.
Vor allem aber musste ich mich mit den russischen Dichtern und Denkern auseinandersetzen. Der leuchtende Stern war Puschkin, den man mit geradezu religiöser Inbrunst verehrte. Im Gespräch waren auch Gribojedow, Lermontow und die Zöglinge des Peterhofer Lyzeums, von denen viele dann beim Dekabristenaufstand eine Rolle spielten.
Zwar beschäftigte sich der Kreis junger Leute, zu dem ich gefunden hatte, gründlich mit der überall gepriesenen neuen sowjetischen Literatur, doch hatte man auch jene Namen nicht vergessen, die in Presse und Funk nicht mehr genannt oder deren Werke bereits verboten waren. So lasen wir die Zwetajewa und Bulgakow (dessen Stück «Die Tage der Turbins» noch am Künstlertheater gespielt wurde) oder die immer mehr verpönte Achmatowa. Die Verse des endgültig verbotenen «Kulakendichters» Sergej Jessenin schrieben wir aus zerfledderten Heften ab und reichten sie von einem zum anderen weiter. Darüber hinaus setzten wir uns mit Leonid Adrejew, Konstantin Balmont, Fjodor Sologub auseinander, die damals ebenfalls schon faktisch verboten waren und, im Gegensatz zu den Obengenannten, auch nach Ende der Stalin-Ära kaum wieder gedruckt wurden.
Dass das Theater in dieser Zeit meine große Leidenschaft wurde, hing sicherlich auch mit den Mädchen zusammen, die bei unseren Theaterbesuchen dabei waren – besonders denke ich dabei an Lydia Mankowa, eine Kindergärtnerin, die aus Ostsibirien stammte und deren zartes Gesicht einen leicht asiatischen Einschlag besaß. Wir kannten Regisseure und Schauspieler und stritten oft bis in die Nacht über das Anliegen des Autors, den Wahrheitsgehalt des Werkes, die Eigenmächtigkeit der Regie. Schon bald konnte ich die einzelnen russischen Theaterschulen unterscheiden: das Malyj-Theater mit den großen Schauspielern der Jermolow’schen Garde, das Künstler-Theater Stanislawskis. Das moderne Wachtangow-Theater, das supermoderne Meyerhold-Theater, das mir, trotz meines revolutionären Eifers, nicht so lag, und schließlich das bombastisch-repräsentative Bolschoi-Theater, das mich damals noch sehr beeindruckte.
Natürlich sahen wir uns auch jeden neuen Film an oder gingen zu Lesungen und Vorträgen ins nahegelegene Polytechnische Museum. In Deutschland hatte ich nie ein Konzert besucht. Jetzt kam ich ab und zu mal ins Konservatorium oder lauschte Estradenkonzerten, in denen der umschwärmte Leonid Utjossow glänzte. Die einzigen Veranstaltungen, bei denen ich mich nicht wohl fühlte, waren die Tanzabende, an denen meine neuen Freunde großen Gefallen fanden. Sie bewegten sich alle ungezwungen auf dem Parkett, ich aber konnte nicht tanzen. Manchmal versuchte Lydia mich an den Händen zu nehmen und in das Getümmel zu ziehen, doch war ich blöd genug, mich zu widersetzen.
Inzwischen rückte mir meine Luta in immer weitere Ferne. Ich schob die Wiederaufnahme der Korrespondenz immer wieder hinaus. Was konnte ich ihr über meine Situation, über meine Perspektiven, über meine Zweifel mitteilen? Umso mehr, als ich das Wichtigste nur verschlüsselt oder gar nicht schreiben konnte? Und dann plötzlich – über diese Wendung war ich selbst erstaunt, ja erschrocken – war ich verliebt.
Bei jeder Begegnung mit Lydia entdeckte ich etwas Neues, Anbetungswürdiges. Ich konnte mir nichts Vollkommeneres vorstellen als ihre feingeschwungenen Lippen, die Grübchen auf ihren Wangen, ihren dunklen Teint. Die Welt, in der ich lebte, erschien mir in neuem Licht – weil Lydia in derselben Welt zu Hause war.
Zunächst ließ sich Lydia meine Liebesbeteuerungen gefallen – mehr nicht. Aber schließlich, an einem der ersten Maitage 1936, fragte sie mich, ob ich nicht für uns beide ein Zimmer besorgen könne. Ich traute meinen Ohren kaum. Das Ersehnte, unmöglich Geglaubte war Wirklichkeit geworden. Allerdings bedurfte es zur tatsächlichen Erfüllung meiner Wünsche eines zweiten Wunders: Ich musste ein Zimmer in Moskau finden.
Ich schlug Lydia vor, in einen Vorort zu ziehen, aber davon wollte sie nichts wissen. Nach langer Suche gelang es mir über den Bekannten eines Bekannten namens Schpigel, der den Sommer auf seiner Datsche verbrachte, für drei Monate ein Zimmer in der Stadt zu mieten. Anfangs befürchtete ich, dass Lydia angesichts der unsicheren Perspektive auch dieses Angebot ausschlagen würde. Ihr Ja machte mich überglücklich.
Das Schpigel’sche Zimmer befand sich in einem schon ziemlich verwahrlosen Neubau in der
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