Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
zu einem kleinen Waldflüsschen, an dem es streng getrennte Badestellen für Männlein und Weiblein gab.
Wenn das Leben der Goryschnikows bescheiden anmutet, so muss angemerkt werden, dass es zwischen dem Lebensstil von Nomenklaturakadern und gewöhnlichen Sterblichen dennoch einen beträchtlichen Unterschied gab. Die meisten meiner Zeichnerkollegen wohnten – ohne diese etwa als Belastung zu empfinden – mit drei oder sogar mehr Leuten zusammen in einem Zimmer einer Gemeinschaftswohnung, sparten jahrelang für einen Wintermantel und betrachteten es als normal, ihr Brot (wenn es überhaupt ausreichte!) ohne Aufstrich zu essen.
Mädchenbekanntschaften gab es in der ersten Zeit wenige. Ich erinnere mich an eine zarte Germanistik-Studentin, die leidenschaftlich mit mir über Klassenkampf, die historische Mission der Arbeiterklasse und die neue Gesellschaftsordnung diskutierte. Jelena Alfarowna, Lenotschka genannt, hatte lange blonde Zöpfe und wirkte äußerlich fast wie ein deutsches Gretchen, ihre Unruhe, ihre Begeisterungsfähigkeit und ihr Pathos waren jedoch typisch russisch. Wenn wir in menschenleeren Winkeln des Parks in Sokolniki* spazieren gingen, sprach sie am liebsten von Selbstaufopferung, unerschütterlicher Freundschaft und von Liebe. Dieses Wort hatte für sie einen geradezu mystischen Klang. Da wir einander sehr mochten, wäre es sicherlich zu einer Liebelei zwischen uns gekommen, wenn Lenotschkas Reden über Treue und Ehre mich nicht ständig an das Versprechen gemahnt hätten, das ich meiner fernen Freundin Luta einst in Berlin gegeben hatte.
Von ganz anderem Naturell war Assja, eine brünette Oberschülerin, die ich – wie auch Lenotschka – in der Nebenstelle des Ausländerklubs im Gorki-Park kennenlernte. Assja war lebhaft, äußerte sich bestimmt und errötete nicht einmal bei gelinden Obszönitäten. Allerdings kam es mit Assja nie zu Spaziergängen in verlassenen Parkwinkeln. Sie zog es immer dorthin, wo sich Menschen stauten, wo es etwas zu erleben und zu erfahren gab. Mit Assja sah ich den gerade uraufgeführten Tschapajew-Film und Podogins Bühnenstück «Aristokraten», das es mir besonders angetan hatte. Das Drama handelte vom Bau des belomorsko-baltiski-kanal (Weißmeer-Ostsee-Kanals*). In seinem Mittelpunkt standen ehemalige Weißgardisten, meist Adlige, die in einer Arbeitskolonie zu nützlichen Bürgern des Sowjetstaates umerzogen wurden.
Was ich damals natürlich nicht wusste: die gesamte Verwaltung des Bauprojekts – Leitung, Politabteilung, Wachmannschaften – würde nach Fertigstellung des Kanals zum Aufbau eines neuen Arbeitslagers in den Nordural überführt werden, in jenes Lager, in dem ich mich acht Jahre später wiederfinden sollte.
ZEITENWENDE
Am 1. Dezember 1934 wurde das Politbüromitglied Sergej Kirow im Leningrader Smolny ermordet.
Kirow war ein sowohl innerhalb der Partei als auch beim Volk beliebter Politiker, der bei der geheimen Wahl des Politbüros auf dem 17. Parteitag nur drei Gegenstimmen erhalten hatte – im Unterschied zu Stalin, gegen den 292 Delegierte stimmten. Als Sekretär der wichtigen Leningrader Parteiorganisation hatte Kirow 1927 die Nachfolge Sinowjews angetreten, der plötzlich als «Rechtsopportunist» abgestempelt worden war. Es hieß, Kirow habe in Leningrad ein ganzes Nest von «Abweichlern» ausgeräumt.
Nun war Kirow ermordet worden, wie erst am folgenden Tag, dem 2. Dezember bekannt wurde. Ich erinnere mich, dass ich am Abend dieses Tages zu Goryschnikows ging, um zu erfahren, was Lasar Alexandrowitsch über das Attentat dachte. An diesem Tag kam er noch später als gewöhnlich nach Hause. Er war schweigsamer denn je und konnte seine Erregung nur mit Mühe verbergen. Immer wieder stand er von seinem Schreibtisch auf, durchmaß das Zimmer mit langen Schritten und murmelte vor sich hin: «Schlimm ist das, ganz schlimm.» Heute nehme ich an, dass er die wahren Zusammenhänge erkannte. Vermutlich hatte er schon bei der sogenannten Tscheljabinsker «Schädlings-Affäre» einige Erfahrungen mit dem NKWD* gemacht und ahnte sogar, dass das NKWD auch ihn und seine junge Frau im Laufe der nächsten zwei, drei Jahre gnadenlos zermalmen würde.
Wenige Tage später erzählte mir Ljuba, dass ihr Mann große Schwierigkeiten auf der Arbeit habe. Es hatte zum Beispiel eine von Lasar Kaganowitsch geleitete Inspektion beim Tscheljabinsker Traktorenwerk, einer von Lasar Alexandrowitschs Abteilung betreuten Baustelle, gegeben, nach der einige
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