Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Ingenieure unter den fadenscheinigsten Beschuldigungen verhaftet worden waren. Einen Zusammenhang zwischen diesen Vorkommnissen und der Reaktion Alexandrowitschs auf den Mord in Leningrad vermochte ich damals aber nicht herzustellen. Aus nächster Nähe sind entscheidende Zäsuren manchmal schwerer zu erkennen.
Jener 1. Dezember, dessen ich alljährlich mit Trauer und Zorn gedenke, scheint mir aus heutiger Sicht als Tag des Begräbnisses der sozialistischen Gesellschaftspraxis. Auch wenn die Hintergründe dieses Verbrechens bisher nicht vollständig aufgeklärt wurden, besteht kein Zweifel, wer hinter dem Attentat stand. In seinem Schlusswort auf dem 22. Parteitag der KPdSU* im Jahre 1961 enthüllte Nikita Chruschtschow, dass zunächst die Mörder selbst sowie alle Personen ihrer Umgebung rasch und ohne ordentliches Gerichtsverfahren erschossen worden waren, dass man dann den Personenkreis, der von der Erschießung dieser Personen Kenntnis hatte, umbrachte und schließlich auch diejenigen aus dem Wege räumte, die die Mitwisser ermordet hatten.
Obwohl ich damals der offiziellen Version glaubte, derzufolge Kirow von «Volksfeinden» ermordet worden war, dämmerte mir, dass es um mehr ging als um den Kampf des Sowjetvolkes gegen seine Feinde. Es wunderte mich, dass man alle Leibwächter Kirows, die doch zur Klärung der Untat hätten beitragen können, sofort nach dem Mord ohne Prozess erschossen hatte und auch die Mörder hinrichtete, ehe sie ihre Hintermänner preisgegeben hatten. Am wenigsten konnte ich verstehen, wieso die Partei in dieser Situation ihre vielzitierte Führungsrolle nicht wahrnahm. Tatsache war nämlich, dass alle im Zusammenhang mit dem Kirow-Mord stehenden Maßnahmen, so unter anderem die noch am selben Tag erlassene Ausnahmeverordnung über Sondergerichtsbarkeit, die unmittelbar folgende Verhängung von Dutzenden und Aberdutzenden Todesurteilen in Leningrad, in der Ukraine und in Belorussland, die Verhaftung Sinowjews, Kamenews, Jewdokimows und weiterer 13 ehemaliger Politbüro- oder ZK-Mitglieder, denen man eine «trotzkistische Verschwörung» zur Last legte – dass all diese Maßnahmen vom NKWD ergriffen wurden, ehe das Zentralkomitee der Partei zusammentrat, um die Situation einzuschätzen und entsprechende Beschlüsse zu fassen.
Das Wesen der vor sich gehenden Veränderungen erkannte ich jedoch nicht einmal ansatzweise. Zum einen erschien mir eine Abkehr von den Grundsätzen der Oktoberrevolution undenkbar, außerdem begannen die mit dem Kirow-Mord eingeleiteten Verbrechen nur langsam ihre Kreise zu ziehen. Trotzdem waren die sich vollziehenden Wandlungen unübersehbar. Man hörte Gemunkel über geheimnisvolle konterrevolutionäre Aktivitäten, über Sabotage und Schädlingsaktionen des Klassenfeindes. Immer häufiger hieß es, dass ausländische Spione und Agenten Vieh vergiftet, Explosionen verursacht oder Unfälle herbeigeführt hätten. Als im Mai 1935 der Prototyp des Riesenflugzeugs «Maxim Gorki» von einem Sportflieger gerammt wurde und abstürzte, waren wir davon überzeugt, dass der Sportpilot, ein hochdekorierter Militärflieger, ein Feind des Volkes gewesen sei. Gerüchte über um sich greifende Verhaftungen von alten Parteimitgliedern und -funktionären erschienen immer glaubwürdiger, weil zwar ständig die Berufung neuer Leute auf exponierte Posten bekanntgegeben wurde, jedoch nicht gesagt wurde, was mit den alten Funktionären geschah.
Aber auch im öffentlichen Leben passierten Dinge, die mich befremdeten. In Deutschland hatten wir Jungkommunisten mit dem Slogan «Dein Körper gehört dir» für die Freigabe der Abtreibung gekämpft und es als vorbildlich angesehen, dass solche Eingriffe in der Sowjetunion erlaubt waren. Nun wurden sie plötzlich unter Strafe gestellt. Zudem waren wir der Auffassung gewesen, dass die Ehe einer Versklavung der Frau gleichkommt, wenn keine menschenwürdige Möglichkeit der Scheidung gegeben ist. Doch nun wurde in der Sowjetunion über Nacht eine Kampagne gegen die Ehescheidung eingeleitet und dann Scheidungsgebühren festgelegt, die die Auflösung einer Ehe für die meisten unbezahlbar machten. Die bisher betriebene Propaganda gegen die Kirchen wurde plötzlich eingestellt, die antireligiösen Museen schlossen ihre Pforten oder wurden verkleinert. Später verschwand vom Roten Platz sogar die Tafel mit dem Marx-Wort «Religion ist das Opium des Volkes», die den Ikonenrahmen, in dem zur Zarenzeit die Iwer’sche Gottesmutter hing,
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