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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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mir ausgehändigt wurde, stand nämlich: «Gültig für 14 Tage zur Rückreise nach Deutschland». Meine Pläne waren durchkreuzt. Ade Luta!
    Eine Stunde nachdem ich den neuen Pass in Empfang genommen hatte, überantwortete ich die Schnipsel, in die ich das gerade errungene Dokument verwandelt hatte, der Klospülung.
    Sechs Jahre später, unmittelbar nach Kriegsausbruch, als das deutsche Botschaftsarchiv in Gestalt flockiger Papierasche durch die Straßen des Moskauer Stadtzentrums wirbelte, hätte ich am liebsten gebetet: Herr, lass alle Unterlagen über meinen Botschaftsbesuch verbrennen! Und dieses Gebet wurde – obwohl nicht ausgesprochen – erhört!  3 Gelassen konnte ich reagieren, als mir zwei Jahrzehnte später ein Jugendfreund aus der kommunistischen Bewegung erzählte, Mitte der dreißiger Jahre sei einmal ein Gestapomann in der Nachbarschaft aufgetaucht, habe sich nach mir erkundigt und dabei erwähnt, dass ich einen Rückreiseantrag gestellt habe. Er fügte sogleich hinzu, dass er natürlich sofort durchschaut habe, dass es sich um eine dumme Provokation handle. Ich brauchte nur zustimmend mit dem Kopf zu nicken.
    Erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, lüfte ich, da ich mich allein der Wahrheit verpflichtet fühle, mein Geheimnis – allerdings nur, indem ich es einem Bogen Papier anvertraue.

HIMMELHOCH JAUCHZEND …
    Nach den letzten Ereignissen konnte am Vorabend des Jahreswechsels 1935/36 kein Zweifel daran bestehen, dass ich mich auf einen langen Aufenthalt in der Sowjetunion einrichten musste. Angesichts der zunehmend ausländerfeindlichen Atmosphäre gelangte ich zu dem Schluss, dass ich mich, wenn ich bestehen, ja vielleicht trotz allem noch zum Studieren kommen wollte, maximal meiner Umgebung anpassen müsse. Das hieß: Emigrantenmentalität ablegen, Kontakte zum Ausländerklub abbrechen und die sowjetische Staatsangehörigkeit annehmen. Vor allem aber bedeutete es, dass ich nicht nur fehlerfrei, sondern akzentfrei Russisch lernen und mich mit der russischen Kultur anfreunden musste: Ich beschloss, Russe zu werden.
    Dieser Entschluss erwies sich als folgenreich für mein weiteres Leben und Überleben. Ein bis zwei Jahre nachdem ich faktisch aus dem «Klub für ausländische Arbeiter» ausgeschieden war, wurden binnen kurzer Zeit fast alle dortigen Stammgäste in Nacht-und-Nebel-Aktionen vom NKWD abgeholt und der absurdesten Taten beschuldigt (wie zum Beispiel beim sogenannten Hitlerjugend-Prozess* 1938). Dabei machte der Verhaftungsapparat auch nicht vor den Kindern verdienter Kommunisten halt. Verhaftet wurden unter anderem die Söhne von Hans Beimler, Gustav Sobottka, Max Maddalena, Max Seydewitz oder Berta Lask. Viele der ehemaligen Klubmitglieder wurden erschossen, andere haben die üblichen zehn Jahre Lagerhaft nicht überlebt, nur wenige sind nach 1945 aus den Weiten Sibiriens nach Deutschland zurückgekehrt.
    Anfang 1936 war der Erwerb der sowjetischen Staatsbürgerschaft noch unkompliziert. Die Rote Hilfe besorgte mir die zwei erforderlichen Bürgen, eine Genossin und einen Genossen. An ihn kann ich mich nicht mehr erinnern; sie, eine blonde Enddreißigerin, wurde 1937 verhaftet.
    Mein Entschluss, Russe zu werden, hatte zur Folge, dass ich noch stärker in meinen neuen Freundeskreis hineinwuchs. Über meinen Kollegen und Freund Stjopa Nikolajew (ein gebürtiger Bulgare, dessen Eltern in den Bürgerkriegsjahren in der Sowjetunion umgekommen waren) fand ich Anschluss an eine Gruppe von Theaterliebhabern, die zumeist an der KUNMS arbeiteten. Sie halfen sich gegenseitig beim Besorgen von Theaterkarten, besuchten oft zu fünft oder zu sechst die Vorstellungen, diskutierten über das Gesehene und ereiferten sich über Bücher, die sie gelesen, oder Ausstellungen, die sie gesehen hatten.
    Im Kreise dieser jungen Leute eröffnete sich mir eine Welt, die mir bisher verschlossen gewesen war. Und das gilt nicht nur für die russische Literatur. So seltsam, ja beschämend es ist, fand ich beispielsweise erst über meine neuen Moskauer Freunde zu Heinrich Heine. In unserer sektiererischen KPD-Welt hatten wir ihn als «bürgerlichen» Dichter abgelehnt, ohne ihn je gelesen zu haben. Und nun bestaunte ich seine herbe Gesellschaftskritik und den Zauber seiner Lyrik – und das, obwohl ich das meiste auf Russisch las. Ähnlich erging es mir mit anderen großen Klassikern. In Deutschland hatten wir Goethe links liegenlassen, von Schiller allenfalls «Die Räuber» gelesen. Hier las ich auch

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